Blickpunkt Kroatien 2/2022

Im Jahr 1 der Zeitenwende widmet sich die Winter-Ausgabe des „Blickpunkts“ außenpolitischen Fragen: In wichtigen Nachbarländern fanden Wahlen statt, die Auswirkungen auf Kroatien haben – zwei Regierungschefs mit autoritären Tendenzen wurden wiedergewählt, in einem Fall gelang jedoch die Abwahl, während sich in Bosnien und Herzegowina ein gemischtes Bild zeigte. Gleichzeitig kam (auch durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine) neuer Wind in den Erweiterungsprozess. Diese Entwicklungen kommentieren eine Reihe hochrangiger und renommierter „Blickpunkt“-Gesprächspartner*innen: die slowenische Außenministerin Tanja Fajon, die Bundestagsabgeordneten Josip Juratović und Adis Ahmetović sowie Prof. Florian Bieber. Den Abschluss bildet ein Interview mit unserem langjährigen „Blickpunkt“-Redakteur, Prof. Nenad Zakošek.

Inhaltsverzeichnis der Ausgabe 2/ 2022

1. Zur Stärkung von gutnachbarlichen Beziehungen: Interview mit Tanja Fajon

2. Doppel-Interview mit Adis Ahmetović, MdB und Josip Juratović, MdB über Bosnien und Herzegowina nach den letzten Wahlen

3. Autoritäre Tendenzen in Variationen: Interview mit Florian Bieber

4. Kurzer Rückblick auf eine lange Zusammenarbeit: Interview mit Nenad Zakošek

 


Editorial

von Boris Stamenić

Das Jahr 2022 war für Kroatien außenpolitisch von großer Bedeutung: In wichtigen Nachbarländern fanden Wahlen statt, gleichzeitig kam neuer Schwung in den Beitrittsprozess der Westbalkanstaaten. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen für Kroatien beleuchten wir im vorliegenden Blickpunkt:

Die slowenische Außenministerin Tanja Fajon  berichtet, wie sich die slowenisch-kroatischen Beziehungen nach dem Antritt der neuen slowenischen Regierung entwickelt haben und wie sich Kroatiens bevorstehender Beitritt zur Eurozone und zum Schengenraum auf die Beziehungen beider Länder auswirken wird.

Die Bundestagsabgeordneten Adis Ahmetović und Josip Juratović bewerten die Auswirkungen der Wahlen in Bosnien und Herzegowina auf Kroatien in einem Doppelinterview.

Den Zusammenhang zwischen Demokratieabbau,  der sich nicht zuletzt in den Wahlergebnissen in Ungarn und Serbien manifestierte  und „Erweiterungsmüdigkeit“ analysiert Prof. Dr. Florian Bieber, Leiter des Zentrums für Südosteuropastudien an der Universität Graz und Koordinator von Balkans in Europe Policy Advisory Group (BiEPAG).

Zu guter Letzt bringt die neue Ausgabe ein Gespräch mit Prof. Dr. Nenad Zakošek, dem bisherigen Redakteur und Herausgeber des Newsletters und einem der besten politischen Analysten des Landes. Durch das Prisma seiner langjährigen Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung schätzt er politische Kontinuitäten und Veränderungen in Kroatien aus der Langzeitperspektive ein.

Ich lade Sie herzlich ein, mehr über die erwähnten Themen in der neusten Ausgabe des Newsletters „Blickpunkt Kroatien“ zu erfahren und wünsche Ihnen eine interessante und anregende Lektüre.


Zur Stärkung von gutnachbarlichen Beziehungen: Interview mit Tanja Fajon

 

> Wie schätzen Sie die slowenisch-kroatischen Beziehungen ein, ein halbes Jahr nachdem die neue Regierung ins Amt gewählt wurde und Sie Ihr Mandat als Außenministerin der Republik Slowenien übernommen haben?

Die Beziehungen zwischen den Ländern sind freundschaftlich, breit aufgestellt und intensiv. Ich bin mir einer guten Zusammenarbeit zwischen Nachbarn sehr bewusst, weshalb auch mein erster Besuch der Nachbarländer in Kroatien stattfand. Meine Hauptaussage meinem Ministerkollegen Herrn Dr. Grlić Radman gegenüber war die Verpflichtung der slowenischen Regierung zur Stärkung gutnachbarlicher Beziehungen. Mit dem Minister stellten wir einen guten Kontakt auf Arbeitsebene her und umrissen die zukünftige Zusammenarbeit.

> Ihre Aussagen, wie auch Stellungnahmen anderer Mitglieder der Regierung der Republik Slowenien sowie der Regierung der Republik Kroatien geben den Anschein, dass die zwischenstaatlichen Beziehungen zu diesem Zeitpunkt wirklich gut seien. Eine gegenseitige Wertschätzung der Beziehungen ist sicherlich erfreulich, aber zur gleichen Zeit auch etwas überraschend, wenn man einige offene Fragen zwischen Slowenien und Kroatien berücksichtigt. Wie erklären Sie sich, dass die Atmosphäre trotzdem so harmonisch ist?

Nur in einer guten Atmosphäre kann man über Meinungsverschiedenheiten diskutieren und einen Fortschritt erzielen. Gerade vor einigen Tagen (28. und 29. November) war der slowenische Staatspräsident Borut Pahor zum offiziellen Besuch in Kroatien. Gleichzeitig war das sein letzter Amtsbesuch im Ausland. Es freut mich, dass Kroatien im Januar der Eurozone beitritt.

Natürlich wünschen wir uns, bei den offenen Fragen mit Kroatien Lösungen anzustreben. Vielleicht ist es ein richtiger Zugang, dass wir zuerst die leichteren, praktischen Fragen zu lösen beginnen und danach zur Lösung der schwierigeren Fragen übergehen. Dabei darf ich anführen, dass die Frage der Staatsgrenze mit der Entscheidung des Schiedsgerichts gelöst ist. Offen bleibt nur noch die Umsetzung dieser Entscheidung.

In Slowenien haben wir es mit unserer neuen Links-Mitte-Regierung geschafft, Vertrauen zwischen Politik, Fachwelt und der Zivilgesellschaft herzustellen. Die Sozialdemokraten sind der Regierung von Robert Golob beigetreten, weil wir an Respekt, Zusammenarbeit und Dialog glauben. Wir sind überzeugt, dass man nur mit einer Stärkung des Vertrauens Herausforderungen meistern kann, und auf diesem Wege möchte ich als Außenministerin auch die Politik gegenüber allen unseren Nachbarländern führen. Im Sinne von Zusammenarbeit und gutnachbarlicher Beziehungen.

> Trotz einer intensiven zwischenstaatlichen Zusammenarbeit bestehen offene Fragen, die bereits dreißig Jahre die slowenisch-kroatischen Beziehungen belasten. Von der Grenzziehung bis zu Finanz- und Eigentumsfragen nach dem Zerfall Jugoslawiens erbte die neue Regierung einige langjährige Probleme mit dem Nachbarland. Welche Schritte könnten mit dem Ziel unternommen werden, die offenen Fragen zu lösen? Erkennen Sie vielleicht eine Chance zur Lösung wenigstens eines der Probleme in den nächsten Jahren?

Slowenien fühlt sich zu guten Beziehungen zu seinen Nachbarn verpflichtet. Mit Minister Dr. Grlić Radman führten wir auch ein offenes und aufrichtiges Gespräch zu den offenen bilateralen Fragen. Wir vereinbarten, dass der Dialog auf Arbeitsebene weitergeführt wird und man an konkreten Lösungen zu arbeiten beginnt, insbesondere an diesen, die das alltägliche Leben unserer Bürger*innen betreffen. Als Beispiel möchte ich die Frage der Erneuerung von Grenzbrücken hervorheben; zahlreiche dieser Brücken sind nämlich in einem schlechten Zustand. Eine Absprache über ihre Renovierung war sehr langwierig. Auf eine ähnliche Art und Weise möchten wir auch andere Fragen lösen, die für unsere Staatsbürger*innen wichtig sind. Wie bereits gesagt, hat das Schiedsgericht bereits die Frage der Staatsgrenze gelöst. Es ist aber wichtig zu betonen, dass wir aus dem Lösen offener Fragen in all diesen Jahren Einiges gelernt haben. Jetzt sind wir sehr vorsichtig, was den Beitritt zu strategisch wichtigen Projekten mit anderen Ländern angeht. Wir möchten unseren Nachkommen nämlich keine ähnlichen Probleme hinterlassen, mit welchen wir uns seit der Ausrufung der Selbstständigkeit auseinandersetzen mussten. Eine andere Sache ist, dass wir in Slowenien für die meisten Probleme eine gemeinsame europäische Lösung anstreben, beginnend mit dem Thema der Energie.

> Kroatien wird bereits zu Beginn 2023 dem Schengenraum beitreten. Welche Chancen, oder welche Risiken bestehen bezüglich des Beitritts der Republik Kroatien zum Schengenraum vom Standpunkt der Regierung der Republik Slowenien?

Wie auch bekannt ist, unterstützt Slowenien den Beitritt Kroatiens zum Schengenraum. Slowenien ist Mitglied des Schengenraums bereits seit 2007 und ist bereit, Kroatien mit Erfahrungen bei der Ausübung dieser anspruchsvollen Aufgabe zu helfen. Die Polizeibehörden beider Länder haben eine lange Geschichte guter Zusammenarbeit. Bei der Erweiterung des Schengenraums weisen wir, sowie auch die übrigen Mitglieder dieses Raumes und unter Berücksichtigung der aktuellen Migrationsströme, auf die Bedeutung der Gewährleistung der konsequenten Erfüllung der Verpflichtungen in Verbindung mit dem Schutz der Außengrenze der EU und sonstiger Aufgaben gemäß dem Schengen-Besitzstand hin. Wir behalten uns aber das Recht vor, das uns gemäß Rechtsordnung zusteht, dass wir erneut Kontrollen einführen können, sollte das notwendig sein. Dies ist aber weder unser Ziel, noch unser Wunsch.

> Der Brdo-Brijuni-Prozess stellt jahrelang ein Symbol enger Zusammenarbeit zwischen Ljubljana und Zagreb auf dem Gebiet der Annäherung der Länder des westlichen Balkan zur EU dar. Doch der Erweiterungsprozess der EU hat schon jahrelang keinen Fortschritt erfahren. Wie sind Ihre Eindrücke vom letzten Spitzentreffen?

Als Nachbarländer des westlichen Balkans teilen Slowenien und Kroatien den Standpunkt bezüglich der Bedeutung eines aktiven Einbringens in der Region. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern im Brdo-Brijuni-Prozess schätzen wir sehr. Der grundlegende Ausgangspunkt zwischen Slowenien und Kroatien bezüglich der Region ist jedoch etwas unterschiedlich, weshalb die Zusammenarbeit beider Länder am Westbalkan gewisse Einschränkungen erfährt. Es stimmt doch, dass Kroatien mehr und auf eine andere Art und Weise in die Geschehnisse in der Region eingebunden ist als Slowenien, insbesondere noch was die Lage in BiH und die Beziehungen mit Serbien angeht.

Slowenien sieht die Erweiterungspolitik der EU als ausschließliches Werkzeug für eine Stabilisierung des westlichen Balkans und für einen wirtschaftlichen Wandel der Region. Und als geopolitisches Werkzeug, wichtig für unsere innere Sicherheit und Stabilität in der EU. Aus diesem Grund setzen wir uns zum Beispiel dafür ein, dass bereits 2022 Bosnien und Herzegowina den Kandidatenstatus erhält.

> Wie sehen Sie die slowenisch-kroatischen Beziehungen in der Zukunft?

Slowenien wird sich bemühen, dass die Beziehungen zwischen den Ländern in allen Bereichen möglichst gut sind. Neben zahlreichen zwischenmenschlichen Beziehungen und kultureller Zusammenarbeit, findet zwischen den Ländern auch eine intensive wirtschaftliche Zusammenarbeit statt. Darauf muss man bauen. Die Handelsbilanz erreichte im letzten Jahr (2021) einen Rekordwert von 5,6 Mrd. EUR (30% Wachstum im Vergleich zu 2020). Eine Zusammenarbeit in den Bereichen Investitionen und Dienstleistungen, insbesondere Tourismus, ist von Bedeutung. Slowen*innen sind an zweiter Stelle was die Übernachtungen in Kroatien angeht, die Hälfte der Slowen*innen verbringt wenigstens einmal jährlich ihren Urlaub in Kroatien. Ich bin überzeugt, dass sich mit dem Beitritt Kroatiens zur Eurozone und zum Schengenraum im nächsten Jahr (1.1.2023) die wirtschaftliche Zusammenarbeit noch verstärken wird.

 

Die Fragen des schriftlichen Interviews stellte Dr. Boris Stamenić.

 

 


Doppel-Interview mit Adis Ahmetović, MdB und Josip Juratović, MdB über Bosnien und Herzegowina nach den letzten Wahlen

 

> Herr Juratović, Herr Ahmetović, Sie beide sind Abgeordnete der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Aus dieser Perspektive – und vielleicht nicht zuletzt aufgrund Ihrer familiären Wurzeln  - beobachten Sie die Region Südosteuropa und Kroatien und BiH im Besonderen, seit langem. Inwieweit hat sich die Region in den letzten fünf Jahren verändert?

Herr Juratović: Zunächst möchte ich eines feststellen und ich denke, das ist auch für Adis wichtig: Wir sind Berichterstatter der Sozialdemokratischen Partei im Deutschen Bundestag für die Westbalkan-Region. Diese Arbeit machen wir beide gewissenhaft, und zwar im Sinne, dass es für uns keine Prioritäten gibt, weder was unsere Wurzeln betrifft, noch was sonstige Sachen angeht. Wir versuchen vernünftig unsere Berichterstattung nach unserer Erfahrung und nach unseren Kenntnissen so darzustellen, wie wir sie empfinden. Es kann zu unterschiedlichen Meinungen bei einem oder anderem Thema kommen, aber mir persönlich ist es wichtig, dass wir dieses Gespräch nicht als ein Kroate und ein Bosniake, sondern viel mehr als zwei Abgeordnete des Deutschen Bundestags führen. Die Berichterstattung machen wir unabhängig von unseren Wurzeln, und zwar für die gesamte Region. Diese Region ist mir persönlich sehr wichtig, weil ich im ehemaligen Jugoslawien geboren wurde. Nach Deutschland bin ich als jugoslawischer Gastarbeiter angekommen, daher habe ich eine besondere Beziehung zur gesamten Region.

Die oberste Priorität der Regierungen in manchen Ländern der Westbalkan-Region ist nicht der EU beizutreten, sondern den Status Quo beizubehalten.

Als jemand der seit 40 Jahren in der SPD ist und der seit 16 Jahren dieses Thema im Deutschen Bundestag begleitet, muss ich sagen, dass ich keine großen Veränderungen in der Westbalkan-Region in den letzten fünf Jahren sehe. Dieses Tempo der Entwicklung in der gesamten Region ist für mein Empfinden viel zu langsam und zeigt eigentlich, das, was ich schon immer behauptet habe. Die oberste Priorität der Regierungen in manchen Ländern der Westbalkan-Region ist nicht der EU beizutreten, sondern den Status Quo beizubehalten.

Herr Ahmetović: Erstmal möchte ich das Eingangsstatement meines Kollegen begrüßen. Ich glaube, es ist nicht nur eine Aufgabe für Menschen mit einem sogenannten „West-Balkan-Background“, sich mit der Region zu beschäftigen, sondern es muss eine europäische Pflicht werden. Das beginnt bereits mit der Formulierung „den sechs Westbalkanstaaten eine europäische Perspektive zu geben“, obwohl diese Staaten inmitten von Europa liegen, also quasi die Herzkammer sind. Der große institutionelle, formelle Startschuss dieser EU-Perspektive begann 2003 in Thessaloniki. Was ist seitdem [dem Gipfel „EU - Westliche Balkanstaaten“ in Thessaloniki, Anm. d. Red.] passiert? Von acht Westbalkanstaaten sind inzwischen zwei Mitglieder der EU: Slowenien und Kroatien. Die sechs weiteren warten seit 2003 bislang vergeblich. Durch das Hinhalten der Politik und der Gesellschaft geht nach aktuellen Umfragen und Studien die Überzeugung und der Rückhalt für die europäische Zukunft, für die EU-Idee zurück, in manchen Teilen findet die Idee der EU nur noch rund 40 Prozent Zuspruch. Das zeigt uns, dass wir hier viele Hoffnungen mindestens gedämpft, wenn nicht gar zerstört haben. Als EU und Deutschland müssen wir nun endlich Farbe bekennen. Deshalb begrüße ich sehr, dass unser Bundeskanzler, wenn er über die „Zeitenwende“ für die Außen- und Sicherheitspolitik spricht, den Westbalkan mit im Blick hat. Diesen Worten müssen wir jetzt Taten folgen lassen.

> Am 2. Oktober wurde in Bosnien und Herzegowina gewählt. Was bedeutet das Wahlergebnis für das Land sowie für das zukünftige Verhältnis zwischen BiH und Kroatien?

Herr Ahmetović: Erstmal freue ich mich sehr, dass in diesem Jahr überhaupt Wahlen stattgefunden haben. Es gab Versuche, diese Wahlen durch ethno-nationalistische Kräfte zu boykottieren und sie erst gar nicht stattfinden zu lassen. Zweitens, diese Wahlen sind friedlich abgelaufen, ohne große Unruhen, obwohl im Vorfeld und im Wahlkampf anderes angekündigt worden ist. Manche Politikerinnen und Politiker haben mit Ausschreitungen gedroht, wenn Ergebnisse nicht in ihrem Sinne ausfallen würden. Drittens lassen sich positive Veränderungen bemerken, wenn man sich die Wahlergebnisse im Detail anschaut. Da meine ich zum Beispiel die Erneuerungen im Staatspräsidium.

Was mich sehr freut ist, dass der Sozialdemokrat von Seiten der Bosniaken, Denis Bećirović, es geschafft hat, und zwar mit dem besten Ergebnis im gesamten Land, mit weit mehr als 300.000 Stimmen. Wenn man das Staatspräsidium in Gänze betrachtet, stehen zwei der drei Mitglieder klar für den EU-Beitritt und befürworten einen NATO-Beitritt. Zudem grenzen sie sich ganz klar von Moskau, von Russland ab. Deshalb sind diese Wahlergebnisse zu begrüßen. Und auch aus Kroatien sollten sie positiv bewertet werden, weil das EU- und NATO-Land weitere Unterstützung für die pro-europäische Idee in der Westbalkan-Region bekommt. Nachbarn müssten in der Regel immer an einem kooperativen Verhältnis interessiert sein.

Herr Juratović: Was mich von meinem Kollegen unterscheidet, ist einfach das Alter. Als ich so alt war wie er jetzt ist, habe ich mich auch über Politik der kleinen Schritte gefreut. Nun in meinem fortgeschrittenen Alter wird man langsam satt von kleinen Schritten. Von dem her sehe ich die Situation etwas anders, nicht ganz positiv, aber sicherlich ist jede Wahl eine neue Möglichkeit, eine neue Chance. Deshalb darf man nie Hoffnung verlieren. Man kann sich schon darüber freuen, dass diese Wahlen friedlich verlaufen sind. Mich enttäuscht aber, dass sie keine inhaltlichen Wahlen waren. Von Anfang an waren die Wahlen durch Aktionismus und Manipulation von außen beeinflusst, was letztendlich die nationalistischen Positionen verstärkt hat. Natürlich freue ich mich über den Wahlerfolg von Denis Bećirović, ich stand von Anfang an für Denis Bećirović und den Parteibündnissen um ihn. Das ist tatsächlich etwas Großartiges, was er geschafft hat. Leider haben die Sozialdemokraten jedoch nicht das erwünschte Ziel erreicht. Ich habe von vornherein davor gewarnt, dass die Sozialdemokraten nur eine Chance haben, wenn sie inhaltlich, konstruktiv politisch, mit sozialdemokratischen Themen in den Wahlkampf gehen und nicht mit Aktionismus, zum Beispiel wie gegen den Hohen Repräsentanten des OHR Christian Schmidt.

Es ist wichtig, dass die Debatte über Separatismus, Abspaltung und Teilung des Landes endlich mal aufhört

Letztendlich hoffe ich, dass durch eine neue Regierung, eine neue Möglichkeit für die regionale Zusammenarbeit entstehen wird. Erstmal würde es mich jedoch sehr freuen, wenn wir innerhalb der Föderation Bosnien und Herzegowina, [einer der beiden Entitäten des Staates Bosnien und Herzegowina, Anm. d. Red.] eine starke, gute und funktionsfähige Regierung bekommen würden. Das war bisher nicht der Fall. Es ist ebenso wichtig, dass die Debatte über Separatismus, Abspaltung und Teilung des Landes endlich mal aufhört, diese Themen haben die Menschen völlig durcheinandergebracht. Ich finde es auch wichtig, dass man in BiH nicht die Fehler aus Jugoslawien wiederholt. Daher sind mir Bosniaken als zahlenmäßig stärkste Gruppe wichtig. Sie müssen jetzt unheimlich aufpassen, dass sie nicht den Eindruck erwecken, das Land für sich allein zu vereinnahmen. Sie müssen sich bemühen, dass sie Mitstreiter sowohl unter Kroaten als auch unter Serben gewinnen, weil ein einheitliches Bosnien und Herzegowina nur mit Bosniaken, Kroaten und Serben gemeinsam funktionieren kann und nicht gegen eine von diesen Volksgruppen. Deshalb hoffe ich, dass jetzt BiH eine neue gefestigte Regierung bekommt, die tatsächlich für ein multiethnisches Bosnien und Herzegowina der gleichberechtigten Bürger*innen steht. Ich hoffe, dass das Land endlich Mal einen inneren Frieden dadurch bekommt, um sich weiter in die Richtung der Europäischen Union bewegen zu können.

> Christian Schmidt, der Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft in BiH, zeigt sich seit der Amtseinführung im Sommer 2021 entschlossen, zur Lösung der politischen Krise im Land beizutragen. Im Juli 2022 hat er zunächst die Wahlrechtsänderungen angeordnet. Gleich nach der Schließung von Wahllokalen am 2. Oktober änderte Schmidt indes die Verfassung und das Wahlgesetz in BiH. Wie bewerten Sie den Inhalt und den Zeitpunkt der Änderungen? Und welche Rolle spielte Ihnen zufolge die kroatische Regierung dabei?

Herr Juratović: Es wird sehr oft vorgeworfen, dass die kroatische Lobby Christian Schmidt beeinflusst habe. Ich möchte nur dazu sagen, dass nicht nur die kroatische Lobby, sondern jeder versucht hat, eigenen Einfluss auf Christian Schmidt auszuüben, nicht zuletzt auch die SDA, also die Bosniakische Partei, sowie die HDZ, die kroatische Partei, die übrigens Schwesterparteien in europäischer Familie [innerhalb der Europäischen Volkspartei, Anm. d. Red.] sind, und haben Einiges bisher untereinander abgesprochen, sich jedoch nie getraut, der Öffentlichkeit Preis zu geben. Ja, er sprach mit vielen aus der Zivilgesellschaft, mit Parteien, mit Brüssel, mit Washington, mit Berlin bevor er seine Entscheidung traf.

Christian Schmidt hat das Amt des Hohen Repräsentanten von Valentin Inzko übernommen. Obschon Inzko als Hoher Repräsentant in zwölf Jahren einiges gut und richtig gemacht habe, war sein Mandat eigentlich ein Stillstand in der Entwicklung von BiH. Daher ist es zunächst einmal positiv zu betrachten, dass jetzt jemand da ist, der was bewegt. Das Zweite, ich fand es, war völlig daneben, die Demonstrationen gegen Christian Schmidt zu Wahlkampfzwecken zu organisieren, also gerade gegen jemanden, der die Arbeit von denjenigen gewählten Politiker*innen erledigt, die es seit 2014 bewusst versäumt haben, ihre Arbeit zu leisten. Und drittens, betrachtet aus internationaler Sicht, finde ich es unerhört, wie man das Ansehen vom Amt des Hohen Repräsentanten, einer internationalen Institution, deren Teil man sein möchte, in BiH in Frage stellt. Leider auch unterstützt von einzelnen Kolleg*innen aus dem europäischen Ausland.

Was seine Entscheidungen betrifft, wie glücklich oder unglücklich sie waren, das lasse ich offen. Allerdings muss man auch bedenken, dass Schmidt diese Reform unmittelbar nach der Wahl bringen musste, um eine neue politische Konstellation zustande zu bringen, die die Bildung einer funktionsfähigen Regierung ermöglicht. Seit 2014 war die Regierungsbildung in der Föderation wegen der gegenseitigen Blockaden nicht möglich. Übrigens, es handelte sich um die Blockaden, die zwischen Ćović, Dodik und Izetbegović [den Parteiführern der dominanten nationalistischen Parteien in jeweiliger von drei konstitutiven ethnischen Gruppen, Anm. d. Red.] abgesprochen wurden und somit die Macht allein auf die Parteienführung übertragen.

Herr Ahmetović: Ich habe mich schon unmissverständlich dazu geäußert: Ich bin über den Zeitpunkt der Änderung des Inhalts des Wahlgesetzes und damit einhergehend auch der Verfassung der Entität Föderation Bosnien und Herzegowina weiterhin ziemlich irritiert. Wir deutschen Parlamentarier hätten solch eine Art der Änderung niemals im Bundestag zugelassen. Die Menschen haben am 2. Oktober gewählt, an demokratischen Wahlen partizipiert und zwei Stunden nach der Schließung der Wahllokale hat der Hohen Repräsentant die Bonn Powers[1] verwendet, ohne vorherige Rücksprache mit den neugewählten Institutionen. Dies ist nicht allein nur meine Meinung, sondern auch die der Venediger Kommission: Eine Verfassungsänderung hat spätestens ein Jahr vor einer Wahl zu erfolgen, definitiv nicht am Wahltag selbst. Den Einfluss der kroatischen Regierung auf die Entscheidung von Christian Schmidt, lässt sich leicht aus einer Presseaussage von Premierminister Plenković und dem Twitter-Account der kroatischen Regierung zitieren, demzufolge seien sie ziemlich froh über den Einfluss, den sie in den letzten Tagen, Wochen und Monaten geltend gemacht hätten. Die kroatischen Medien schreiben ebenso, dass die HDZ-Regierung auf diese Wahländerung massiv Einfluss genommen hat. Dieser Vorgang ist weder demokratisch noch können diese Änderungen im Sinne aller Kroatinnen und Kroaten in BiH sein, die sich einen europäischen Staat der gleichberechtigten Menschen wünschen.

Was den Inhalt dieser Änderung angeht, darüber kann man streiten. Ich bin kein Verfassungsexperte für BiH, aber ich glaube, dass mit dieser Änderung durch Christian Schmidt nicht nur die HDZ, sondern am Ende auch die SDA und die SNSD [die dominante politische Partei unter den Serb*innen in BiH, Anm. d. Red.] gestärkt werden. Ich hoffe, dass sich dies am Ende nicht bewahrheitet, aber wir müssen die Entwicklungen abwarten.

> Bei den Wahlen am 2. Oktober wurde Željko Komšić von der Demokratska Fronta als kroatisches Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums wiedergewählt. Seine Kontrahent*innen und Kritiker*innen in BiH sowie in Kroatien behaupten seit Jahren, dass Komšić kein legitimer Vertreter der Kroat*innen in BiH sei, weil er dank der Stimmen von Bosniak*innen gewählt gewesen wäre. Was halten Sie von dieser Kritik?

Herr Juratović: An dieser Stelle muss ich eins sagen: Legitim ist das, was nach dem Wahlrecht gewählt wurde und durch die Wahlen bestätigt wurde. Also, die Behauptung, dass Komšić kein legitimer Vertreter der Kroaten wäre, das kann man schlicht nicht so sagen. Es gibt aber trotzdem ein „aber“. Was ich als Kritik an Željko Komšić ausübe, ist die Tatsache, dass er Politik als reine Mathematik betrachtet. Er hat bewusst auch um Stimmen der Nationalisten gebuhlt. Zweitens, er ist ein Mitglied des Präsidiums und es ist ein Fakt, dass wir ein Präsidium mit einem bosniakischen, einem kroatischen und einem serbischen Vertreter haben. Das Problem, das ich sehe, ist, dass er nie versucht hat, zu der Volksgruppe, die er vertritt, hinzugehen und zu sagen: „Ok, ich weiß, viele von euch haben mich nicht gewählt, aber ich bin auch euer Vertreter.“

In BiH wird es nicht für jemanden, sondern gegen jemanden gewählt

Es gibt ein kulturelles Problem in Bosnien und Herzegowina. Es wird nicht für jemanden, sondern gegen jemanden gewählt. Viele haben Željko Komšić gewählt, um gegen die Kroaten zu wählen. Gleichfalls haben viele Borjana Krišto [die Kandidatin von der HDZ BIH für das Staatspräsidium, Anm. d. Red.] gewählt, um gegen die Bosniaken zu wählen und ich hoffe, dass man irgendwann diese Kultur so weit entwickelt, dass man nicht gegen jemanden wählt, sondern, dass man tatsächlich gute Vertreter*innen für Kroaten und für Bosniaken wählen wird.

Fakt ist, dass es drei konstitutive Völker in Bosnien und Herzegowina gibt, sowie die anderen Bürger*innen laut Dayton-Abkommen und der bosnisch-herzegowinischen Verfassung. Ich hoffe, dass man eines Tages tatsächlich einen Staat der gleichberechtigten Bürger*innen Bosnien und Herzegowinas bekommen wird und dass die Nationalität und die Herkunft keine Rolle spielen werden. Jetzt komme ich unter Verdacht, ein Jugo-Nostalgiker zu sein, aber trotzdem, es war besser wie es in Jugoslawien war, wo es keine Rolle spielte, ob jetzt jemand Bosniake oder Kroate oder Serbe ist, sondern man war zunächst einmal für die Menschen da, die man vertreten hat. Ich habe verschiedene Zeiten in dieser Region durchgemacht und ich muss mit Schmerzen in der Seele, als jemand der im Widerstand gegen Kommunisten war, heute feststellen, dass sich die negativen Praktiken der Kommunisten fortgesetzt haben und das wenige Positive verschwunden ist. Ich wünschte mir, dass man eine Demokratie schaffen kann, wo die Herkunft keine Rolle spielen wird. Mir ist es bei der neuen Regierung ganz wichtig, dass BiH sich gesellschaftlich-politisch so weit entwickelt, dass sich das Dayton-Abkommen erübrigt und dass sich die europäische Gesellschaftsform zur Normalität in diesem Land entwickelt.

Herr Ahmetović: In dem Kritikpunkt, dass Komšić kein legitimer Vertreter der Kroatinnen und Kroaten in BiH sei, weil er mit den Stimmen von Bosniakinnen und Bosniaken gewählt worden wäre, befinden sich zwei Annahmen, die ich grundsätzlich ablehne. Die erste Annahme ist, dass es ein Prinzip der legitimen Repräsentation gäbe. Von dem Prinzip halte ich nichts, es widerspricht den Prinzipien der EU-Menschenrechtserklärung. Wenn man sich die Wahlergebnisse in Livno anguckt [, einer Stadt bzw. einem Wahlkreis im Südwesten des Landes, mit mehrheitlich ethnisch kroatischer Bevölkerung heutzutage, Anm. D. Red.] dann könnte ebenso behauptet werden, dass die Kroatinnen und Kroatien dort Denis Bećirović, [den Kandidaten der Sozialdemokratischen Partei für das Staatspräsidium, Anm. d. Red.] gewählt hätten, um den Wahlsieg von Bojana Krišto und auch indirekt von Bakir Izetbegović zu verhindern.

Es wird Zeit für ein progressives Bündnis in Kroatien

Seit wann gibt es diese Behauptung einer angeblich illegitimen Repräsentation durch Željko Komšić? Es gibt sie, seitdem die HDZ diese Position nicht mehr selbst besetzt und damit den Einfluss im Staatspräsidium verloren hat. Wichtig ist zu betonen: Hier geht es der HDZ darum, weiter Einfluss auf Bosnien und Herzegowina über die HDZ-Verbindungen von Zagreb nach Mostar auszuüben. Ich hoffe sehr, dass es bei den nächsten Wahlen in Kroatien zu einem Regierungswechsel kommen wird. Es wird Zeit für ein progressives Bündnis in Kroatien. Bei Željko Komšić gefällt mir übrigens eine Sache besonders gut: Er betont häufig, dass ihm die religiöse oder ethnische Zugehörigkeit von Menschen egal ist. Das ist ein Mindset, eine Rhetorik und ein Narrativ, das versöhnend und zusammenführend ist. Zusammen mit Denis Bećirović gibt es nun zwei Mitglieder des Staatspräsidiums, die für Bosnien und Herzegowina stehen, das Land in seiner territorialen Integrität und Souveränität erhalten und es in die Richtung der EU- und NATO-Mitgliedschaft führen wollen.

Zugleich möchte ich meinem Kollegen zustimmen, dass Komšić die imaginäre Mauer brechen und dass er selbstbewusst in Livno, Mostar oder Tomislavgrad auftreten sollte [also in den Orten mit mehrheitlich ethnisch kroatischer Bevölkerung, in denen die HDZ-Kandidatin Bojana Krišto deutlich mehr Stimmen als Komšić erhalten hat, Anm. d. Red.]. Denn keine Stadt in BiH gehört irgendeiner politischen Partei. Das Land gehört allein seinen Bürgerinnen und Bürger.

> Hinsichtlich der Wahlergebnisse stellt der Wahlsieg von Denis Bećirović aus der Sozialdemokratischen Partei sicherlich die wichtigste Neuigkeit dar. Somit wird Bećirović das neue bosniakische Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums, in dem die Bosniak*innen bisher von Šefik Džaferović aus der SDA vertreten wurden. Was kann man aus der Wahl von Bećirović ablesen? Ergibt sich aus seiner Wahl die Chance, die innenpolitisch bedingte Blockade der politischen Institutionen in der Entität Föderation Bosnien und Herzegowina aufzuheben?

Herr Ahmetović: Ich würde es mir sehr wünschen für das Land und seine Menschen, dass die politischen Institutionen auf allen Ebenen ohne gegenseitige Blockade die Arbeit aufnehmen können. Des Weiteren hoffe ich, dass die drei Mitglieder des Staatspräsidiums eine Agenda aufsetzen, um für alle transparent zu machen, was sie für BIH und die Menschen in den nächsten Jahren erreichen wollen. Das wäre eine Kraftquelle für die Gesellschaft, weil es Orientierung und Halt in Zukunft geben könnte.

Die letzten Wahlen brachten viele positive Entwicklungen in BiH. In der Entität Republika Srpska hat die SNSD von Milorad Dodik ihre Dominanz bzw. ihr Monopol verloren. Mit Vojin Mijatović und weiteren Parlamentariern ist die „Pokret za Državu“ in dem Entitäts-Parlament von der RS stark vertreten. Auch Ćamil Duraković aus Srebrenica, ein Rückkehrer aus den Vereinigten Staaten, der Vizepräsident von Republika Srpska geworden ist, ist als ein weiteres Beispiel einer positiven Entwicklung zu erwähnen. Ich hoffe, dass insbesondere Präsident Denis Bećirović aus seiner neuen Rolle heraus parteiübergreifende Brücken bauen kann. Diese sind dringend notwendig. Eine Demokratie lebt auch von Abwechslungen. Es ist gut, dass die Bosniakinnen und Bosniaken jemandem aus einer progressiven Partei, die glaubwürdig für ein staatsbürgerschaftliches Bild von Bosnien und Herzegowina steht, gewählt haben. Das sollte als Chance von allen Seiten wahrgenommen werden.

Herr Juratović: Ich denke schon, dass der Wahlsieg von Denis Bećirović ein wichtiges Signal ist. Der Wahlsieg von Željka Cvijanović [der Kandidatin von der SNSD bei den Wahlen für den serbischen Sitz im Staatspräsidium, Anm. d. Red.] ist ebenfalls ein wichtiges Signal. Somit bin ich überzeugt davon, dass zumindest mal im Präsidium, nachdem Milorad Dodik nicht mehr Mitglied ist, eine neue politische Umgangskultur zu Stande kommt. Leider ist es so, dass die nationalistischen Parteien die SDA, die HDZ und die SNSD immer noch die stärksten Parteien in den Parlamenten geblieben sind.

Ich bin dem Hohen Repräsentanten Christian Schmidt sehr dankbar

Mir ist aber in erster Linie wichtig, dass wir funktionsfähige Parlamente und Regierungen bekommen, das hatten wir bisher nicht. Bisher war die internationale Gemeinschaft gezwungen, mit den Parteichefs der drei großen nationalistischen Parteien zu verhandeln, da es durch gegenseitige Blockaden keine legitimen Regierungen bzw. Institutionen gab. Das wurde jetzt endlich mal unterbrochen und in dieser Hinsicht bin ich dem Hohen Repräsentanten Christian Schmidt sehr dankbar, dass er mit seinem unerbittlichen Engagement erreicht hat, die Wahlreform so umzusetzen, dass Blockaden nicht mehr möglich sind und die Parteien gezwungen sind, Regierungen zu bilden. Somit wird das Land jetzt politische Institutionen bekommen, die funktionsfähig sind. Mit anderen Worten, jetzt bekommen wir endlich einen funktionierenden Staat Bosnien und Herzegowina, einen Staat mit Institutionen, mit denen wir auch auf internationaler Ebene konstruktiv zusammenarbeiten können und wir nun damit beginnen können, die 14 Prioritäten auf dem Weg in die Europäische Union durch Eröffnung der Verhandlungen mit der EU [die Europäische Kommission 2019 bestätigt hat, Anm. d. Red.] zu bringen. Und das muss unser oberstes Ziel sein.

Außerdem ist es sehr wichtig, dass durch Funktionalität der Institutionen, insbesondere der Justiz, durch Bekämpfung der Korruption und der Organisierten Kriminalität wieder das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat gewonnen wird. Die nationalistischen Parteien nämlich haben bewusst die Menschen gegeneinander ausgespielt und gegenseitige Blockaden inszeniert, um ihre korrupten und kriminellen Machenschaften zu verdecken. Damit wird nun ein Ende sein.

> Nicht nur im öffentlichen Diskurs in BiH dominiert eine Mischung aus ethno-nationalistischer Konflikt-Rhetorik und einem weit verbreiteten Pessimismus bezüglich der Zukunftsperspektiven des Landes. Wie können progressive Parteien – in BiH, in Kroatien, aber auch darüber hinaus – ihre Themen in den Vordergrund stellen, wenn solche Sichtweisen vorherrschen? Und wie sehen Sie das Verhältnis progressiver Parteien zwischen BiH, Kroatien und Deutschland?

Herr Juratović: Die Demonstrationen gegen Christian Schmidt, leider organisiert von Teilen der bosnischen SDP, waren ein Tiefpunkt vor den Wahlen. Die SDA hat die Demonstrationen schnell übernommen und dadurch die SDP gezwungen, sich als eine pro-bosniakische Partei zu erklären, die sozusagen das Spiel zum Teil widerwillig mitspielen musste. Es ist schade, weil wir hier von einer progressiven Partei reden. Progressiv wäre doch gewesen, die Themen wie die Bekämpfung der Kriminalität, sozialpolitische Fragen oder den Zustand des Gesundheitswesens, in den Fokus zu stellen. Diese Themen waren in der Wahlkampagne so gut wie überhaupt nicht präsent. Stattdessen drehte sich alles um die Positionierung der Parteien zu Christian Schmidt, wo sich fast jede Partei als bosniakisch, kroatisch oder serbisch erklären musste. Das allerschlimmste war dabei, dass viele gemäßigten Kroaten in dieser Kampagne so gut wie keinerlei Unterstützung von gemäßigten Bosniaken erhielten.

Diese Art von Hysterie und Spaltungen habe ich zum ersten Mal in meiner langjährigen Arbeit erlebt. Die Rhetorik, die sich gegen die ganzen ethnischen Gruppen richtet, erinnert an die Zeiten unmittelbar vor dem Zerfall Jugoslawiens. Das ist eine große Gefahr für Bosnien und Herzegowina, bei der wir auch international entgegenwirken müssen. Auch die Aussagen von [dem Staatspräsidenten Kroatiens, Anm. d. Red.] Milanović waren das berühmte Öl ins Feuer gießen. Wenn man Bosnien und Herzegowina ernsthaft erhalten will, dann muss man wissen, dass man es nur mit den gemäßigten und auf Kooperation ausgerichteten Bosniaken, Kroaten und Serben, sowie mit allen anderen schaffen kann. Diesem muss man auch international mehr Beachtung geben.

Herr Ahmetović: Ich würde diese Fragen ein bisschen anders einordnen. Erstens betrachte ich das Demonstrieren als demokratisches Recht jeden Individuums. In Deutschland steht das Demonstrationsrecht im Grundgesetz und ist sogar als Grundrecht eingestuft. Zweitens ist es natürlich sehr wichtig, mit welchen Botschaften eine Person oder Gruppe auf die Straße geht. Drittens: Eines der größten Probleme von BiH ist der häufig destruktive Einfluss seiner Nachbarn. Das Land ist wie in ein Korsett gequetscht. Zudem entpuppen sich diese Einflüsse als Unterstützung für ethno-nationale Kräfte. Das muss aufhören, damit sich BiH fortschrittlich entfalten kann.

Wenn man sich zudem anschaut, wie die progressiven Parteien in der Balkan-Region vernetzt sind, lässt sich erkennen, dass da noch Luft nach oben ist. Ich hätte zum Beispiel gerne gesehen, wie progressive, sozialdemokratische Parteien aus der Region zusammen in Bosnien und Herzegowina auftreten würden, um die grenzübergreifende Solidarität zu bekunden. So etwas gab es leider zu wenig, stattdessen wird vom kroatischen Präsidenten Zoran Milanović mit jedem seiner Statements Öl ins Feuer gekippt.

Als linke, progressive Akteure müssen wir in der Vernetzung besser werden und häufiger gemeinsam agieren

Ich wünsche mir, dass das in Zukunft besser wird. Die Konferenz in Cavtat[2] hat ebenfalls gezeigt, dass es ein großes Potential einer besseren Verbindung und Koordinierung zwischen den progressiven Parteien gibt. Wir merken, wie gut die Rechten untereinander organisiert sind. Sie unterstützen sich gegenseitig – vor allem bei Wahlen. Als linke, progressive Akteure müssen wir in der Vernetzung besser werden und häufiger gemeinsam agieren. Das toxische Klima müssen wir mit einem konstruktiven, programmatischen Dialog ersetzen – und das geht nur, wenn wir stark und viele sind.

> Wir alle wünschen uns politische Stabilität für Bosnien und Herzegowina. Es gibt aber Sorgen angesichts der sehr fragilen Ordnung, die auf dem Dayton-Abkommen basiert. Was würde ein instabiles BiH für Kroatien und auch für Deutschland bedeuten? Und was wäre aus Ihrer Sicht der wichtigste Schritt zur Stabilisierung des Landes?

Herr Ahmetović: Kroatien müsste als EU-Land ein großes Interesse an einem stabilen BiH mit einer EU-Perspektive haben. Ich freue mich, dass Bundeskanzler Olaf Scholz in jeder seiner außenpolischen Reden betont, wie wichtig ein EU-Betritt des Landes ist. Im Gegensatz zu Deutschland handelt Kroatien aber gegenteilig: Die HDZ-Regierung mischt sich häufig destruktiv in das politische Geschehen in BiH ein. Auch aus anderen Teilen der Region bzw. aus der Europäischen Union gibt es diese Versuche. Da ist z. B. Ungarn mit der Fidesz-Regierung, die sehr stark daran arbeitet, das Land zu destabilisieren.

Kroatien müsste eigentlich in seinem eigenen Interesse das bestmögliche Verhältnis zu BiH pflegen. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist an guten und vernünftigen Beziehungen mit dem Nachbarland interessiert, stattdessen ist BiH aber das oberste Ziel der außenpolitischen Agenda der HDZ-Regierung. Das ist ein Grund, warum unter anderem in Herzegowina insbesondere viele junge Menschen nach Deutschland oder in andere EU-Staaten auswandern. Viele von ihnen haben keine Lust, in einem Umfeld voller ethnischer Spannungen und Kriegsrhetorik, Abfälligkeit und Respektlosigkeit zu leben. Zugleich haben BiH als auch Kroatien ein großes demografisches Problem. Deswegen wünsche ich mir, dass es in der gesamten Region eine Zusammenarbeit im Sinne des Respekts, der Wertschätzung und der Anerkennung gibt. Ansonsten wird sich diese Region nur weiter selbst schwächen.

Zum Dayton-Abkommen möchte ich anmerken, dass das Abkommen von 1995 zwar Frieden geschaffen hat, aber heutzutage sorgt es für eine permanente Instabilität und lässt sich zudem nicht mit den Regularien zur Aufnahme in die EU in Einklang bringen. In BiH müsste eine neue Debatte über die Verfassung geführt werden. Es benötigt eine neue Verfassung, die zu den EU-Standards passt. Darauf weisen auch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hin. Neben den drei konstitutiven Völkern gibt es auch die Gruppe der „others“. Dazu zählen z. B. Roma und Jüdinnen und Juden. Im jetzigen politischen System haben diese weniger Rechte als die anderen konstitutiven Völker. Aus diesem Grund müssen die Individualrechte gestärkt werden. Solange es zu keiner Gleichberechtigung kommt, ist die Debatte um einen EU-Beitritt eine Farce. Das müssen wir gemeinsam ändern.

Herr Juratović: Zunächst möchte ich etwas über das Dayton-Abkommen sagen. Das Dayton-Abkommen ist eine Grundlage, die ermöglicht hat, dass es zum Waffenstillstand in BiH unter Aufsicht der internationalen Gemeinschaft zu Stande kam und zwar in der Annahme, dass die Menschen in Bosnien und Herzegowina ihre Zukunft selbst gestalten werden. Was ich kritisch sehe ist, dass ausgerechnet diejenigen in BiH, die ihre Arbeit an der Zukunft des Landes hätten leisten müssen, jetzt auf einmal die internationale Gemeinschaft und die Institution des Hohen Repräsentanten als das größte Problem im Lande hervorheben. Wie im Fall des Stockholm-Syndroms hetzen sie nun die Bevölkerung gegen diejenigen auf, die den Frieden überwachen und aufrechterhalten. Das ist ein Absurdum von Bosnien und Herzegowina.

Dazu werden sie auch noch von den falschen Freunden Bosnien und Herzegowinas von außen unterstützt. Die Menschen in BiH müssen ihr Land selbst gestalten. Für die ganze Region ist es leider sehr geläufig, dass man die Schuld ständig bei anderen sucht. Ich stelle immer wieder die gleiche Frage vor Ort. Man soll mir zeigen, an welcher Stelle im Dayton-Abkommen jemand verhindert wird, vernünftiger Mensch zu sein und nach konstruktiven Problemlösungen zu suchen. Seit 16 Jahren höre ich ständig von diversen Delegationen aus BiH, was nicht geht. Ich will aber hören, was geht. Deshalb wünsche ich mir, dass sich politische Kräfte in BiH zusammensetzen und ihre Rolle als gewählte politische Repräsentanten verantwortungsvoll wahrnehmen, indem sie miteinander nach konstruktiven Lösungen suchen, statt gegeneinander die Menschen verunsichern. Wenn sie dabei unsere Hilfe brauchen, dann stehen wir den gerne zur Verfügung, egal ob sie Kroaten, Serben oder Bosniaken, oder andere sind.

> Mitte Oktober hat die Europäische Kommission den Mitgliedstaaten vorgeschlagen, Bosnien und Herzegowina zum EU-Beitrittskandidaten zu erklären. Beitrittsverhandlungen sollen aber erst nach der Erfüllung von Reformauflagen beginnen. Was halten Sie von dieser Entscheidung der Europäischen Kommission? Welche Auswirkungen hätte der Beitritts BiH aus Ihrer Sicht auf Kroatien?

Herr Juratović: Ich war schon immer dafür, dass man allen Staaten des Westbalkans die Chance gibt, mit den EU-Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Der EU-Beitrittsprozess ist kein Beitritt, aber die Chance, dass in diesem Prozess durch notwendige Reformen ein demokratischer Staat mit funktionierenden Institutionen entsteht. Die Erfahrung Kroatiens weist darauf hin, dass man manche Entwicklungen und Reformprozesse ohne Beitrittsverhandlungen gar nicht in Gang gesetzt hätte. Vor allem die Demokraten in den Westbalkanstaaten bekommen nur durch die EU-Beitrittsverhandlungen eine Chance.

Das ist vor allem sicherheitspolitisch auch wichtig für die EU. Aber vor allem wünsche ich mir eins, und zwar, dass BiH wieder sich selbst werde. Ich wünsche mir, dass es selbstbewusst wird und dass es unter keinem fremden Einfluss mehr steht. Außerdem wünsche ich mir, dass weder Bosniaken unter dem Einfluss von [dem türkischen Staatspräsidenten, Anm. d. Red.]  Erdogan, noch Serben unter dem Einfluss von [dem serbischen Staatspräsidenten, Anm. d. Red.]  Vučić, noch Kroaten unter dem Einfluss von Plenković, Milanović und wem auch immer aus Kroatien stehen. Menschen in BiH haben gezeigt, dass sie selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen können, dass sie ihr Land auf Grundlage einer Wertegemeinschaft demokratisch gestalten können. Diese Menschen haben mehrmals gezeigt, dass wenn irgendwelche Naturkatastrophen, wie zum Beispiel die Jahrhundertflut, kommen, sie solidarisch alle zusammenstehen, sowohl in BiH, als auch in der gesamten Region. Warum sollte dann auch dies nicht im gesellschaftlich-politischen Sinne möglich sein? Es liegt also nicht an den Menschen, sondern an einem System, das dringend geändert werden muss.

Ich wünschte mir, dass sich Kroatien mehr am Aufbau der Demokratie in gesamt BiH engagiert und nicht nur im mehrheitlich kroatisch bewohnten Teil Herzegowinas.

In Kroatien gibt es, mit wenigen Ausnahmen, eine breite Unterstützung von links nach rechts für den EU-Beitritt von BiH, der sicherlich auch zur Sicherheit und Stabilität Kroatiens beibringen würde. Ich wünschte mir, dass sich Kroatien mehr am Aufbau der Demokratie in gesamt Bosnien und Herzegowina engagiert und nicht nur im mehrheitlich kroatisch bewohnten Teil Herzegowinas. In meinen Gesprächen mit Vertretern kroatischer Regierung habe ich mehrmals angedeutet, dass sobald sich die neue Regierung Bosnien Herzegowinas konstituiert, sollen Vertreter*innen kroatischer Regierung nach Sarajevo reisen und eine klare Unterstützung Kroatiens zu BiH im EU-Beitrittsprozess versprechen. Das wünschte ich mir von Kroatien.

Man sollte dabei nicht vergessen, dass die Entscheidung über den Beitritt Kroatiens zur EU gerade durch dieses Versprechen Kroatiens, als einen Leuchtturm und Brücke für die gesamte Westbalkanregion sein zu wollen, Grund war für die Zustimmung für den EU-Beitritt Kroatiens. In dieser Verantwortung steht Kroatien heutzutage übrigens nicht nur gegenüber BiH, sondern auch gegenüber allen Westbalkanstaaten, die auf dem Weg in die EU sind. Der EU-Beitritt auf Grundlage der demokratischen Werte ist die einzige Chance für den dauerhaften Frieden, Stabilität und Prosperität für die gesamte Westbalkanregion.

Herr Ahmetović: Ich unterstütze die Entscheidung, weil die Westbalkanstaaten einen festen Platz in der EU verdienen. Das betont immer wieder unser Bundeskanzler Olaf Scholz, indem er bei unterschiedlichen Gelegenheiten von einer wachsenden EU spricht. Damit meint er nicht nur die Ukraine und Moldau, er denkt ebenfalls an die Westbalkanstaaten, die sich seit fast 30 Jahren um eine Mitgliedschaft bemühen. Der Zuspruch für eine EU-Mitgliedschaft in Bosnien und Herzegowina ist immer noch sehr hoch, in dem Land selbst, aber auch in der Diaspora.

Zweitens kann ich nur den Menschen in BiH bzw. den politischen Vertreterinnen und Vertreter raten, die Reformen und Gesetze nicht nur wegen einer EU-Mitgliedschaft zu implementieren. Wenn man ein Land reformiert, dann tut man es für seine Menschen. Ich kann an die neue Regierung nur appellieren, alle erforderlichen Bedingungen sofort auf die Tagesordnung im Parlament zu setzen, um möglichst schnelle Fortschritte zu erzielen. Zugleich zeigt sich durch die Setzung der vorbereiteten Reformvorschläge auf die Tagesordnung, wer wirklich für eine Reformierung des Landes und seinen europäischen Weg ist – und wer die politische Bremse dieses Kurses ist.

Kroatien sollte eine Brücke zwischen der EU und westlichem Balkan bauen.

Was die Rolle Kroatiens in dieser Region angeht, sollte das Land eine Brücke zwischen der EU und westlichem Balkan bauen. Wenn sich Kroatien in Bosnien und Herzegowina einmischt, dann sollte es darum gehen, das gesamte Land zu stärken. Ein Premierminister oder ein Staatspräsident sind nicht nur Politiker, sie haben auch eine Staatsfunktion. Die Beachtung der diplomatischen Normen würde zu einer Stabilisierung der Region sowie zu einer Verbesserung der zwischenstaatlichen Beziehungen beitragen.

Ich glaube, dass die gesamte Region eine EU-Beitrittsperspektive verdient hat und da setze ich sehr auf Kroatien und stehe auch zur Verfügung, wenn es darum geht, einen konstruktiven Dialog voranzutreiben, unabhängig davon, ob eine progressive oder eine konservative Regierung an der Spitze in Kroatien steht. Es muss parteiübergreifend daran gearbeitet werden, dass der EU-Beitritt der weiteren Westbalkanstaaten beschleunigt wird und dass die Region im Sinne der Demokratie, des Europäischen Gedankens und Friedens vorankommt. In der Zeit, in der wir leben, ist Frieden immens wichtig und nicht selbstverständlich. Und ich glaube daran, dass eine EU-Mitgliedschaft immer noch ein Garant für Frieden in den Ländern ist.

Das Interview wurde von Dr. Boris Stamenić geführt.

 

[1] Die sogenannten „Bonn Powers“ ermöglichen dem Hohen Repräsentanten einen starken Einfluss auf die politischen Prozesse im Land auszuüben. Die Befugnisse und Aufgaben der Institution des Hohen Repräsentanten in BiH wurden zunächst im Annex des Daytoner Friedensabkommens 1995 definiert. Eine erhebliche Verstärkung der Institution erfolgte im Rahmen der Konferenz des Friedensimplementierungsrates für Bosnien und Herzegowina, die im Dezember 1997 in Bonn stattgefunden hat.

[2] Cavtat ist eine Kleinstadt im südlichen Kroatien. Seit über 20 Jahren ist die jährlich stattfindende Cavtat-Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Plattform, auf der Parlamentarier*innen und Fachexpert*innen aus der EU und der Region Westbalkan über aktuelle Entwicklungen, insbesondere Fragen der europäischen Integration diskutieren. Das Gespräch mit beiden Abgeordneten fand am 29. Oktober 2022 im Rahmen der diesjährigen Cavtat-Konferenz statt.


Autoritäre Tendenzen in Variationen: Interview mit Florian Bieber

 

> Im November 2000 fand das Gipfeltreffen der EU mit den Staaten des Westlichen Balkans in Zagreb statt, um den post-jugoslawischen Ländern eine EU-Perspektive zu signalisieren. 22 Jahre später lässt sich über die Perspektive der EU-Mitgliedschaft der kroatischen Nachbarländer BiH, Montenegro und Serbien immer noch nur spekulieren. Wie lässt sich das erklären?

Meiner Meinung nach war der Prozess, der vor 22 Jahren begonnen hat und dann auch mit dem Gipfel in Thessaloniki vor 19 Jahren klar artikuliert wurde, letztlich kein erfolgreicher Prozess. Kroatien ist, klar, die einzige Erfolgsgeschichte in Anführungszeichen - ein Land, das es geschafft hat, in die Europäische Union zu kommen. Alle anderen Staaten sind noch deutlich von einer Mitgliedschaft entfernt. Dabei könnte man sogar sagen, dass einige Länder vor 10 Jahren besser vorbereitet waren als heute: Sie waren demokratischer und es gab weniger bilaterale Spannungen als heute.

Woran liegt das? Ich glaube, die Verantwortung liegt einerseits bei der EU, da sie die politische Bedeutung dieses Prozesses nicht anerkannt hat oder zumindest vergessen hat, als andere Krisen ausgebrochen sind. Andererseits liegt die Verantwortung dafür, dass diese Reformdynamik schnell nachgelassen hat, bei der Region selbst. Man könnte sogar fast darüber spekulieren, ob der sogenannte Sanader-Effekt der Anfang des Endes des Erweiterungsprozesses anderer Staaten war. Dieser Effekt tritt ein, wenn jemand (wie der ehemalige Premierminister Kroatiens Ivo Sanader, Anm. d. Red.), der die Reformen durchführt, verhaftet wird, weil er mit den Reformen auch die unabhängigen Institutionen geschaffen hat, die ihm dann zum Verhängnis werden. Das ist sicherlich nicht der einzige Grund, aber es stellt einen Aspekt dar, warum dieser Prozess im Moment nicht vorangeht.

> Anfang November dieses Jahres fand das Westbalkangipfeltreffen in Berlin statt. Welche Eindrücke lassen sich anhand des Gipfels gewinnen? Gibt es überhaupt noch eine realistische EU-Beitrittsperspektive für die Westbalkanstaaten in den nächsten zehn Jahren? Und was bedeutet dies für Kroatien?

Der sogenannte Berlin-Prozess war vor acht Jahren ein Versuch, den Beitrittsprozess wieder neu zu beleben, weil es schon damals klar war, dass er nicht erfolgversprechend ist. Der Berlin-Prozess ist wiederaufgelebt und hat [mit dem diesjährigen Westbalkangipfeltreffen in Berlin, Anm. d. Red.] wieder eine stärkere Unterstützung von Seiten der neuen deutschen Regierung bekommen, was sicherlich positiv ist. Die Idee, dass die Westbalkanstaaten in absehbarer Zukunft der EU beitreten würden, scheint im Moment aber schwer vorstellbar: Einerseits deshalb, weil wir nicht unbedingt reformwillige Regierungen in der Region sehen, andererseits, weil immer wieder bilaterale Probleme seitens der Mitgliedstaaten den Beitrittsprozess blockieren.

Kroatien könnte „das nächste Bulgarien“ werden

Das Risiko, das ich als sehr groß einschätze, besteht darin, dass Kroatien „das nächste Bulgarien“ sein könnte, also ein Land, das seine Macht als EU-Mitgliedstaat nutzt, um Blockaden einzubringen, die nicht mit EU-Reformen, sondern mit bilateralen Streitigkeiten zu tun haben. Ein solcher Missbrauch schadet der Reputation des Landes und er schadet natürlich letztlich der EU, weil dann die Regierungen in BiH oder in Serbien sagen können, es liegt nicht daran, was wir machen, sondern daran, dass ein anderes Land Probleme mit uns hat. Diese Sorge habe ich gerade aufgrund der bulgarischen Erfahrung, die aus bulgarischer Sicht recht erfolgreich war. Die Aussagen von Seiten der kroatischen Regierung, aber auch des kroatischen Präsidenten, sprechen dafür, dass sie die Nachbarstaaten fast ausschließlich aus der nationalen Perspektive sehen.

> Die Befürworter*innen des EU-Beitritts der Westbalkanstaaten behaupten, dass deren EU-Beitritt etliche Probleme in der Region entschärfen würde. Welche Lehre lässt sich in dieser Hinsicht aus dem Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union vor knapp zehn Jahren ziehen?

Die Hoffnung, dass ein EU-Beitritt alleine für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sorgt, muss hinterfragt werden. Wir wissen genau, dass gerade die sogenannte Konditionalität, also die Beobachtung eines Landes und der Druck zur Reform am größten in dem Land ist, das sich gerade in den Beitrittsverhandlungen befindet. Wenn ein Land einmal EU-Mitglied wird, nimmt dieser Druck sehr stark ab - dies ist ein strukturelles Problem. In den meisten Staaten, die nach 2004 beigetreten sind - auch in Kroatien – lässt sich beobachten, dass es nach dem EU-Beitritt eher Rückschritte als Fortschritte gibt. Gerade aufgrund der Lage in Polen und Ungarn versucht die EU jetzt mehr Bedingungen zu stellen, wodurch die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wichtige Kriterien geworden sind. Das heißt, dass sich die EU im Versuch bewusst ist, über andere Mechanismen diese Konditionalität gegenüber Mitgliedstaaten aufrechtzuerhalten. Man überlegt sich auch, langfristig die Europäische Union so zu reformieren, dass derartige Probleme besser angegangen werden können.

> Die letzte Dekade in der Europäischen Union wurde von starken Polarisierungen und Konflikten zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten bezüglich der politischen, rechtlichen, finanziellen und weltanschaulichen Fragen geprägt. Wie positionierte sich Kroatien innerhalb der EU?

Kroatien gehört sicherlich zu einer erweiterten Višegrad-Gruppe von Staaten, die eben skeptisch gegenüber einer weiteren Integration und liberalen Werten sind, die eher von älteren Mitgliedsstaaten stärker vertreten werden. Aber natürlich muss man bedenken, dass dies eine politische Polarisierung darstellt, die es in allen Staaten gibt, wobei wir auch Länder wie Italien sehen, das jetzt eine Regierung hat, die auch eine ähnliche konservativ-populistische Linie verfolgt. Dabei war es in Kroatien entscheidend, dass man versucht hat, weniger auf Konfrontation zu gehen, jedoch ist man inhaltlich auf dieser Linie sehr stark verankert. 

> In Ihrem viel beachteten Buch "The Rise of Authoritarianism in the Western Balkans", das vor Kurzem auch auf Kroatisch erschienen ist, schreiben Sie über die gegenwärtigen Herrschaftsordnungen in den Westbalkanstaaten. In Kroatien erkennen Sie ebenfalls eine Stärkung von illiberalen, konservativen und nationalistischen Tendenzen, allerdings ohne autoritäre Züge. Können Sie, bitte, Ihre Sichtweise auf den Sonderfall Kroatien erläutern? 

Die autoritären Tendenzen, die ich auf dem Westbalkan beobachte, lassen sich nicht überall gleichsetzen, es gibt sehr große Variationen. Es gibt Länder, wie Serbien, die seit 2012 den Weg zurück zu einem autoritären System eingeschlagen haben, wie wir es aus den 90er Jahren kennen; zwar ohne Kriege, aber in der gleichen Intensität des Autoritären. Und es gibt andere Staaten, die das überwunden haben, wie Nordmazedonien - was nicht heißt, dass es dort nach wie vor keine großen strukturellen Probleme gäbe.

Konservativer Populismus in Kroatien

Im Gegensatz zu den anderen Staaten des Westbalkans ist Kroatien der EU beigetreten. In den Jahren vor dem Beitritt hat man die autoritären Tendenzen in Kroatien im Unterschied zu anderen Westbalkanstaaten in den Griff bekommen und in der kritischen Phase unter Kontrolle gehalten. Die größte Gefahr aus meiner Sicht war die Phase, als [der ehemalige Parteiführer der HDZ, Anm. d. Red.] Karamarko an der Regierung beteiligt war, als es auch ideologisch eine sehr populistische Phase gab. Das Risiko wäre durchaus da gewesen, dass Kroatien dem Weg von Viktor Orbans Ungarn folgen würde. Es fehlte aber die politische Mehrheit für eine derartige Umgestaltung, sodass sie scheiterte. Stattdessen sehen wir in Kroatien eher einen konservativen Populismus, der seitens der Regierung stark ausgeprägt ist. In den letzten Jahren ist ein konservativer Populismus auch in der Rhetorik des Präsidenten Zoran Milanović präsent, allerdings in einer etwas weniger autoritären Ausprägung.

> Die rechtspopulistischen Parteien beeinflussen immer stärker die politischen Prozesse in Europa, in einigen Staaten sind sie momentan ein Bestandteil der Regierung. Wie sehen Sie Kroatien in dieser Hinsicht? Gibt es Ihrer Meinung nach eine relevante rechtspopulistische politische Plattform in Kroatien, die die Macht ergreifen könnte? Oder ist sie womöglich schon an der Macht?

Ich glaube, es gibt zwei Szenarien in Europa: Entweder erlangt eine neue, erfolgreiche rechtspopulistische Partei die Macht – entweder allein oder als Koalitionspartner. Fratelli d´Italia ist ein klassisches Beispiel einer Partei, die vor wenigen Jahren noch sehr klein war, die jetzt die dominante Partei in der italienischen Regierung ist. Es gibt auch kleinere Parteien, wie die FPÖ in Österreich, die sich an der Regierung beteiligen oder beteiligt haben, die aber ideologisch und politisch aus dem rechtsextremen Spektrum kommen.

Oder es kommt zu einer Entwicklung des Extremismus aus der Mitte heraus. Das heißt, dass es etablierte konservative Parteien gibt, die sich zu rechtspopulistischen Parteien entwickeln. Dazu kommt es oftmals, weil konservative Parteien verhindern möchten, dass neue rechtspopulistische Parteien erfolgreich werden und versuchen dann die eigene Dominanz durch die Übernahme derer Inhalte sicherzustellen.

Wir sehen dieses zweite Szenario natürlich auch in Kroatien, wo es der HDZ seit den 90er Jahren eigentlich fast immer gelungen ist, rechts von sich keinen Platz zu lassen oder den Erfolg [ihrer rechten Kontrahenten, Anm. d. Red.] sehr schnell zu untergraben. Dies gelingt ihr meistens, weil die HDZ eine lange Tradition darin hat, ein sehr breites Spektrum ideologisch abzudecken. Man findet alles in der Partei und dadurch gelingt ihr immer wieder in solchen Momenten auch Extreme abzudecken und sie zu integrieren. Es stellt sich jedoch folgende Frage: Zerstört dieser Extremismus den Mainstream aus einer Partei der politischen Mitte, oder ist diese Integration ein pragmatisches Mittel, um sich gegen Extremismus zu wappnen?

In Kroatien bestehen zwei Fragen, die im europäischen Kontext vergleichbar artikuliert wurden: Die erste Frage bezieht sich auf den Kulturkampf - die Idee, dass man sich gegen eine zu weitgehende Liberalisierung von Familienwerten einsetzt. Hier positioniert sich die HDZ konservativ, aber nicht unbedingt in einem Extremismus, wie wir es in anderen Ländern kennen. Die zweite dieser Fragen bezieht sich auf die Grenzen in Europa, wo dann wiederum ein Paradox sichtbar wird. Nun passt die Rhetorik von Franjo Tuđman aus den 90er Jahren ganz gut zu der Schengen-Außengrenze-Rhetorik von heute, da man heute also diese gleiche Rolle als den Schutzwall Europas gegen Südosten als eine europäische Rolle umdefinieren kann.

> Wie sehen Sie Kroatien und die Westbalkanstaaten in der Zukunft? Erwarten Sie eine weitere Konsolidierung von autoritären Ordnungen in der Region oder würden Sie die aktuellen Entwicklungen eher als eine Zwischenphase in einem verspäteten Prozess demokratischer Konsolidierung der Region einordnen?

Zunächst müssen wir die demokratischen Rückschritte nicht nur auf dem Westbalkan, sondern auch, sagen wir mal, in sehr etablierten Demokratien wie USA und Großbritannien feststellen. Gerade diese klassischen Vorbilder der Demokratie zeigen, dass der Prozess einer demokratischen Konsolidierung nie abgeschlossen ist, dass es nie einen Endpunkt gibt; es kann immer wieder Rückschritte geben. Der einzige Unterschied besteht darin, dass es schwieriger ist, die Rückschritte in den Ländern aufzuhalten, die eine weniger konsolidierte Demokratie haben, als in denen, die eine konsolidierte Demokratie aufweisen.

Es gibt keine natürliche Entwicklung vom Autoritarismus zur Demokratie

Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass es eine natürliche Ordnung oder eine natürliche Entwicklung von einem autoritären zu einem demokratischen System gibt. ­Das heißt aber nicht, dass Länder verdammt sind, undemokratisch zu sein. Ich glaube, letztendlich ist das demokratische System nach wie vor das beste politische System, um auf Krisen, auf gesellschaftliche Forderungen eine Antwort zu finden. Deshalb glaube ich, dass es wieder eine neue Phase der Demokratisierung geben wird. Nur die Frage ist, was in der Zwischenzeit passiert und wie lange es noch dauert.

Das Interview wurde von Dr. Boris Stamenić geführt.


Kurzer Rückblick auf eine lange Zusammenarbeit: Interview mit Nenad Zakošek

 

> Wann haben Sie die Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung bzw. als Redakteur der Reihe „Blickpunkt Kroatien“ aufgenommen? Was hat sich in Kroatien seitdem verändert?

Meine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung hat begonnen, bevor das Büro in Zagreb überhaupt gegründet wurde. Als ehemaliger Stipendiat der FES war ich bereits seit Ende 1995 in die Vorbereitungen für die Eröffnung des Zagreber Büros involviert. Das Büro in Zagreb wurde im Mai 1996 gegründet. Zunächst handelte es sich um ein kleines Ortskräftebüro unter Zuständigkeit des Regionalbüros in Sofia. Von 1998 bis 2000 war das neugegründete Regionalbüro in Sarajevo für uns zuständig.

Die 1990er Jahren waren die Zeit eines defekt-demokratischen, sogar semi-autoritären Regimes in Kroatien. Die Bedingungen für die Arbeit der NGOs und der ausländischen Stiftungen in Kroatien waren sehr eng und teilweise undefiniert. Diese Periode endete Anfang 2000 mit dem Wahlsieg der Koalition unter Leitung der Sozialdemokraten. Damals organisierte die FES eine Reihe öffentlicher Veranstaltungen, um die politische Debatte zu fördern. Dies geschah in Absprache mit anderen deutschen politischen Stiftungen, die zu dieser Zeit in Kroatien aktiv waren und sich für politische Bildung einsetzen. In einigen Regionen, wie z. B. in Lika, herrschten damals sehr ungünstige Bedingungen für die Organisation solcher Veranstaltungen und Etablierung neuer Arbeitsformate. Die Spuren der serbischen Besatzung waren noch sehr sichtbar und es gab kaum Arbeitsplätze, abgesehen von staatlichen Institutionen. Die lokalen Machtstrukturen waren völlig von der HDZ kontrolliert, in manchen Orten waren die Oppositionsparteien überhaupt nicht präsent.

Ich kann mich noch gut an die Erfahrung in Slunj erinnern, wo wir eine Diskussionsveranstaltung organisieren wollten. Zunächst wurde uns vor Ort gesagt, dass man weder die Oppositionsvertreter noch einen freien Raum für eine solche Veranstaltung in Slunj finde, alles sei ja besetzt. Ein Kino-Saal wurde uns erst zur Verfügung gestellt, nachdem die konservative Konrad-Adenauer-Stiftung, die ebenfalls involviert war, die HDZ-Zentrale in Zagreb kontaktierte und sich beschwerte. Die Oppositionsvertreter*innen mussten wir doch aus Karlovac einladen, da sie damals tatsächlich keine Ortsorganisationen in Slunj hatten. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie stark das gesamte System in der zweiten Hälfte der 1990er Jahren von der Dominanz der HDZ geprägt war.

Veränderungen nach dem Machtwechsel 2000

Nach dem Machtwechsel Anfang 2000 konnte die FES ihre Tätigkeiten freier gestalten und weiter aufbauen. Im Jahr 2000 erfolgte die Gründung des Regionalbüros Zagreb mit Rüdiger Pintar als erstem Stiftungsvertreter aus Deutschland. Sein Nachfolger war Mirko Hempel, der die kroatische postsozialistische Gesellschaft gut verstanden hat, weil er in der DDR aufgewachsen war. Mirko Hempel hat 2008 vorgeschlagen, dass wir mit einem Kroatien-Newsletter starten sollten. Zunächst haben wir eine gedruckte Ausgabe publiziert mittlerweile wird der Blickpunkt aber im elektronischen Format veröffentlicht.

Der Blickpunkt Kroatien hat die Veränderungen der letzten 15 Jahren aktiv verfolgt, darunter die Annäherung des Landes an die Europäische Union, die Gründung der zweiten sozialdemokratischen Regierung unter Premierminister Milanović, den Ausbruch der Wirtschaftskrise usw. Wichtig ist jedoch, dass ein Szenario wie in Ungarn und Polen in Kroatien nicht verwirklicht wurde, obwohl ein Risiko dafür durchaus vorhanden war. Über den gescheiterten Versuch einer Orbanisierung Kroatiens vor einigen Jahren haben wir auch berichtet. 

> Wie stellen Sie sich Kroatien in 10 Jahren vor? Welche politischen und sozialen Entwicklungen lassen sich bereits antizipieren und welche Fragen sehen Sie völlig offen?

In meiner Forschung beschäftige ich mich mit dem Zusammenhang zwischen ökonomischer Entwicklung und Demokratie. Mit dem Begriff „Middle-Income Trap“ bezeichnet man Gesellschaften eines mittleren Entwicklungsstands, die beim Schritt zu einer hochentwickelten Gesellschaft aus wirtschaftlichen und politischen Gründen scheitern. Ein Beispiel dafür wäre Argentinien, und in einem pessimistischen Szenario könnte auch Kroatien in dieser Falle gefangen bleiben.  

Kroatien hat bisher einiges erreicht, aber das ist immer noch nicht genug, wenn wir eine entwickelte, gut organisierte und gerechte europäische Gesellschaft sein wollen. Die politische Praxis und das politische System in Kroatien haben sich seit den 1990er Jahren kaum verändert: Es ist eine Art des politischen Kapitalismus, wobei man die politische Macht benutzt, um sich durch korruptive Methoden oder einen privilegierten Zugang zu Ressourcen zu bereichern. Viele Bürger*innen akzeptieren das System und passen sich opportunistisch an.

Das Problem der klientelistisch-korrupten Beziehungen

Solange große Teile der kroatischen Gesellschaft nicht bereit sind, diese Korruptionsmechanismen zu überwinden und durch ein rechtsstaatliches System zu ersetzen, wird es diese Blockade geben. Um das Problem der klientelistisch-korrupten Beziehungen zwischen der politischen Macht und der Gesellschaft bzw. der Wirtschaft zu lösen, müsste ebenfalls die HDZ die Regierungsmacht verlieren. Ein Machtwechsel dieser Art erscheint zurzeit jedoch wenig aussichtsreich. Es bleibt unklar, ob die Oppositionsparteien eine Formel für die Bildung einer Koalition finden können, um die HDZ von der Macht zu verdrängen.

Das zweite Problem bzw. Frage besteht darin, ob die kroatische Wirtschaft in der Lage ist, eine hochtechnologische Produktion und neue Dienstleistungsformate zu entwickeln. Wir sind Zeugen der Entstehung vollkommen neuer Unternehmen im IT-Sektor, wobei sich Kroatien als ein wichtiges Land für die Dienstleistungen und Produktion im IT-Bereich in den letzten Jahren positioniert hat. Die Unternehmen und die Beschäftigten in diesen Sektoren können nichts mit dem klientelistischen Modell in der Politik anfangen, für die ist es im Sinne der Kosten und der Barrieren für ihre Entwicklung nicht annehmbar. Aus meiner Sicht ist es offen, ob diese neuen ökonomischen Formen, aber auch das Engagement der Bürger*innen in der Zivilgesellschaft, die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft verändern können, um das Format des politischen Kapitalismus zu überwinden.

In einem pessimistischen Szenario bleiben wir im „Middle-Income Trap“, im politischen Kapitalismus, gefangen. In einem optimistischen Szenario etablieren sich die neuen Modelle sowohl in der Politik, als auch in der Wirtschaft. Ich hoffe, dass Kroatien die Falle des politischen Kapitalismus bewältigen wird. Es gibt gute Chancen dafür, aber es wird nicht leicht sein.

 

Das Interview wurde von Dr. Boris Stamenić geführt.

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