Blickpunkt Kroatien 1/2024
Editorial von Dr. Boris Stamenić
Das Jahr 2024 wird in Kroatien mit gutem Grund das Superwahljahr genannt: Die Bürger*innen des jüngsten EU-Mitgliedstaates werden innerhalb der nächsten Monate sogar dreimal an die Urne gehen. Bereits am 17. April finden die Parlamentswahlen in Kroatien statt. Anfang Juni werden zwölf Mitglieder des Europäischen Parlaments in Kroatien gewählt, während der Termin der Präsident*innenwahl noch nicht festgelegt wurde.
Die regierende HDZ erhofft sich weitere vier Jahre zumindest an der Spitze einer Regierungskoalition in Kroatien zu bleiben, doch das Ergebnis der Parlamentswahl ist viel offener, als es noch vor wenigen Monaten für möglich gehalten wurde. Der unerwartete Einstieg des Staatspräsidenten Zoran Milanović in den Wahlkampf nur weniger Wochen vor dem ebenfalls überraschend frühen Wahltag erstaunte alle Beobachter*innen. Ob und wie genau der populärste Politiker in Kroatien die Ämter eventuell wechseln sollte ist zwar noch nicht geklärt, doch lediglich seine Ankündigung die Regierungsführung nach der Parlamentswahl übernehmen zu wollen erhöht die Aussichten für einen Machtwechsel in Zagreb.
Die linken Oppositionsparteien erklären sich bereit eine Koalitionsregierung nach den Wahlen zu bilden. Der Sozialdemokratischen Partei Kroatiens ist es gelungen, ein Wahlbündnis mit einigen kleineren sozialdemokratischen und liberalen Parteien bereits vor den Wahlen zu schließen. Doch das zweitstärkste linke Partei in Kroatien namens Možemo! hat sich für de facto selbstständigen Wahlauftritt entschieden.
Der neue „Blickpunkt Kroatien“ gibt Einblicke in die Erwartungen progressiver Politiker*innen von den Wahlen. Prominente Expert*innen bewerten den gesellschaftspolitischen Kontext im Adrialand aus politikwissenschaftlicher, journalistischer und zivilgesellschaftlicher Perspektive:
Dalibor Prevender, der Exekutivsekretär der Sozialdemokratischen Partei Kroatiens (SDP) und Gordan Bosanac, der Pressesprecher der links-grünen Partei Možemo! nehmen in einem Doppelinterview zur Frage einer Koalition vor bzw. nach den Parlamentswahlen Stellung.
Tonino Picula, Abgeordnete der Sozialdemokratischen Partei Kroatiens (SDP) im Europäischen Parlament, hebt Themen hervor, die sowohl die Kampagne vor der Europawahl als auch die nächste Amtszeit des Europäischen Parlaments bestimmen werden.
Dr. Dario Čepo, außerordentlicher Professor für Soziologie und Politikwissenschaft an der Juristischen Fakultät der Universität Zagreb, zeigt den schleichenden Demokratieabbau in Kroatien auf und legt besonderes Augenmerk auf dysfunktionale Institutionen.
Maja Sever, Präsidentin der Gewerkschaft kroatischer Journalist*innen und der Europäischen Journalist*innen-Föderation, beschreibt die zunehmenden Einschränkungen für freie Berichterstattung in Kroatien und schlägt einige konkrete Verbesserungsmaßnahmen vor.
Igor Bajok hat den ersten Bürger*innenrat Kroatiens geleitet, der zeigt, dass politische Apathie mit den richtigen Formaten leicht überwunden werden kann. Er arbeitet als Berater und Ausbilder im Bereich des Managements von Non-Profit-Organisationen bei der auf Partizipation und Zivilgesellschaftsentwicklung spezialisierten NGO „SMART“ in Rijeka.
Ich lade Sie herzlich ein, sich anhand neusten Ausgabe des Newsletters „Blickpunkt Kroatien“ einen Überblick über die politische Situation in Kroatien vor den anstehenden Wahlen zu verschaffen, die so spannend ist wie lange nicht mehr!
Gemeinsames Ziel, aber verschiedene Wege: Das Doppelinterview mit Dalibor Prevendar (SDP) und Gordan Bosanac (Možemo!)
> Die Parteiführungen der SDP und Možemo! hoffen, eine Regierungskoalition nach den bevorstehenden Parlamentswahlen bilden zu können. Mitte 2023 wurde die Formierung der einheitlichen Wahllisten von der SDP vorgeschlagen, dennoch hat sich die Partei Možemo! für einen selbstständigen Wahlauftritt entschieden. Auf welchen Überlegungen basierten die beiden Entscheidungen?
Dalibor Prevendar: Wir von der SDP sind davon ausgegangen, dass die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit der linken Oppositionsparteien vor den Wahlen auf der Tatsache beruht, dass die HDZ in Kroatien bereits seit acht Jahren an der Macht ist. In diesen acht Jahren hat die HDZ nicht nur die demokratischen, sondern auch die sozialen Institutionen gekapert und den Staat durch Korruption und Plünderung der öffentlichen Gelder zerstört. Wir sind der Meinung, dass die HDZ keines der Probleme lösen kann, die die kroatischen Bürger*innen beschäftigen. Dazu gehören z.B. hohe Preise, unzureichende Gehälter und Renten, eine nicht funktionierende Justiz, der Kollaps des Gesundheitswesens und die Unfähigkeit, das Wohnungsproblem zu lösen. Ein weiterer Grund, warum wir auf der Linken der Meinung sind, dass die HDZ abgelöst werden sollte, ist der Rechtsruck Kroatiens. Die kroatische Gesellschaft wird zunehmend militaristischer, sie wird immer aggressiver klerikal. Zudem gibt es immer mehr Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt, die die HDZ stillschweigend duldet.
Wir sind bei der Zusammenarbeit der Opposition im Vorfeld der Wahlen von der Prämisse ausgegangen, dass es notwendig ist, mit dem Format in die Wahlen zu gehen, das die besten Wahlergebnisse erzielen wird. Nach den von uns durchgeführten Analysen und der bisherigen Praxis spielt es durchaus eine Rolle, ob der HDZ, die trotz aller Negativität immer noch von etwa 25-30% der Wähler*innen unterstützt wird, mehrere kleinere Parteien mit geringerem Wählerzuspruch gegenüberstehen oder ob es sich um eine vereinte politische Kraft handelt, die mit der HDZ mithalten und sie sogar noch vor den Wahlen mit ihrer Stärke übertreffen kann. Es geht nicht nur um mathematische Überlegungen, sondern auch darum, den Eindruck zu vermitteln, dass es möglich ist, die HDZ zu besiegen, und den Wähler*innen die Botschaft zu senden, dass die Ablösung der HDZ von der Macht für uns wichtiger ist als individuelle Kalkulationen.
Außerdem wissen wir, dass das derzeitige Wahlmodell in Kroatien größere Parteien begünstigt und dass auch die D'Hondtsche Methode[1], Stimmen in Mandate umzuwandeln, größere Parteien begünstigt. Dementsprechend wirkt sich jede Konsolidierung auf der politischen Bühne positiv für die versammelten Parteien aus, vor allem wenn es sich um Parteien handelt, die ein ähnliches politisches Profil haben und einen Synergieeffekt erzielen können. Wir sind nicht der Meinung, dass der Zusammenschluss der Opposition der einzig mögliche Weg ist, aber wir denken, dass er den Weg zu besseren Wahlergebnissen erleichtern kann.
> Herr Bosanac, die Partei Možemo! hat die Entscheidung getroffen, unabhängig zur Wahl zu gehen. Können Sie die Gründe dafür erläutern?
Gordan Bosanac: Wir haben die Entscheidung getroffen, dass wir unabhängig in den Wahlkampf gehen werden. Wir werden unabhängig die Wahlen antreten in dem Sinne, dass wir keinen Koalitionspartner auf Ebene der Republik Kroatien haben werden. Wir haben aber auch gesagt, dass es möglich ist, in bestimmten Wahlkreisen Koalitionen einzugehen. Wir haben einige angekündigt, zum Beispiel im Wahlkreis 10 mit Srđ je grad, einer kleinen lokalen Partei in Dubrovnik. Was die Zusammenarbeit mit der SDP anbelangt, können wir in Možemo! alles unterschreiben, was der Kollege Prevendar über die Notwendigkeit der Ablösung und Zerschlagung der HDZ gesagt hat.
Die gemeinsamen Listen würden keinen Synergieeffekt erzeugen
Wir glauben jedoch, dass die Lösung nicht darin besteht, dass Opposition mit gemeinsamen Listen antritt, denn unsere Analysen haben gezeigt, dass dies keinen Synergieeffekt erzeugen würde. Die Wahlbeteiligung in Kroatien ist nämlich ziemlich niedrig. Wir befürchten, dass die politischen Parteien im Allgemeinen ein schlechtes Image haben, vor allem wenn sie sich zu Blöcken zusammenschließen, und dass dadurch die Wähler*innen, die traditionell nicht wählen gehen, nicht mobilisiert werden. Außerdem glauben wir, dass die HDZ nur besiegt werden kann, wenn die Wahlbeteiligung steigt. Mit der jetzigen Wahlbeteiligung wird es schwierig sein, einen Wechsel herbeizuführen. Wenn wir aber die Wahlbeteiligung erhöhen und mehr Menschen zur Wahl gehen, dann sind wir sicher, dass die HDZ abgelöst werden kann. Deshalb halten wir es für wichtig, den Wähler*innen mehr Möglichkeiten zu lassen, für die sie stimmen können.
Wir haben bereits klar gesagt, dass wir froh sind, wenn die Stimmen an irgendjemanden von der Mitte bis zur Linken gehen, denn wir sind nach den Wahlen für eine Koalition von der Mitte bis zur Linken bereit. Jetzt ist es wichtig, dass jede Partei so viel wie möglich auf die Beine stellt, dass wir dort zusammen antreten, wo es eine klare Synergie zwischen den Parteien gibt. Auf diese Weise werden wir die HDZ besiegen. Die HDZ ist kein sicherer Gewinner dieser Wahlen - im Gegenteil: Ich denke, dass sie ernsthaft erschüttert worden ist. Vor uns liegt ein Wahlkampf, in dem wir alle unser Bestes geben müssen, um das Vertrauen der Wähler*innen, die Stimmen der Unentschlossenen zu gewinnen und so die HDZ zu besiegen.
> Wo sehen Sie die Übereinstimmungen zwischen den beiden Parteien und wo hingegen die Unterschiede bezüglich der Kernthemen und Stammwähler*innen?
Gordan Bosanac: Was das Programm anbelangt, so haben weder unsere Kolleg*innen von der SDP noch wir bisher Einzelheiten veröffentlicht.[2] Die SDP hat einige Politiken angekündigt, die uns sehr nahe stehen, und aufgrund der Erfahrungen aus der Arbeit im Parlament haben wir das Gefühl, dass wir in einem großen Teil der Politiken wirklich einig sind. Der Unterschied liegt vor allem im Zugang und in der Prioritätensetzung. Es gibt keine ernsthaften, unüberwindbaren Differenzen zwischen uns. Deshalb haben wir bereits gesagt, dass wir sehr interessiert und bereit sind, nach den Wahlen gemeinsam die Regierung zu stellen.
Was die Stammwähler*innen angeht, so sind wir die Partei, die derzeit die jüngere Bevölkerung am meisten anzieht. Die Kolleg*innen von der SDP werden vielleicht eine ältere Bevölkerungsschicht anziehen. Genau deshalb denken wir, dass, wenn wir an einem Strang ziehen, wenn wir so viele junge Leute wie möglich und so viele alte Leute wie möglich anziehen, dann entsteht ein kumulativer Effekt. Ich habe auch den Eindruck, dass wir mit unserer grün-linken Position einen ziemlich breiten Kreis von Wähler*innen mobilisieren können, und ich glaube, dass wir das auch bei den Kommunalwahlen in Zagreb im Jahr 2021 gezeigt haben.
> Herr Prevendar, wo sehen Sie Gemeinsamkeiten und wo sind die Unterschiede zwischen SDP und Možemo?
Dalibor Prevendar: Ich stimme hier im Großen und Ganzen, bzw. in allem, mit meinem Kollegen überein. Konkrete Wahlprogramme werden derzeit erstellt. Innerhalb der SDP haben wir Programm- und politische Gremien, die an einzelnen Sektorpolitiken arbeiten, von bezahlbarem Wohnraum, Möglichkeiten zur Erhöhung der Renten und Löhne, bis zur Gewährleistung kostenloser Kindergärten usw.
Obwohl die Wahlprogramme noch nicht fertig sind, lassen sich die programmatischen Ausrichtungen an den bisherigen Aktivitäten der politischen Organisationen ablesen. Wenn wir diese politischen Aktivitäten und diese politischen Initiativen vergleichen, können wir sagen, dass es keine oder nur minimale Unterschiede gibt. Das heißt, vielleicht legt die eine Partei zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas mehr Wert auf bestimmte Themen, die andere etwas weniger, aber es gibt keine gegensätzlichen politischen Ideen. Beide Parteien sind Parteien der Linken, der linken Mitte. Wir arbeiten im kroatischen Parlament zusammen und fast alle Initiativen während der letzten Legislaturperiode des Parlaments wurden gemeinsam durchgeführt. Gordan erwähnte auch die Stadt Zagreb, wo wir ebenfalls eine Koalition eingegangen sind. Natürlich kann es zu kleinen Meinungsverschiedenheiten in bestimmten Fragen kommen, aber im Großen und Ganzen ist die Zusammenarbeit wirklich in Ordnung.
Was die organisatorischen Aktivitäten von uns und Možemo! betrifft, so gibt es Unterschiede. Die SDP ist eine traditionell organisierte Partei, deren Mitglieder*innen nach dem Territorialprinzip in jeder Gemeinde, Stadt und jedem Landkreis organisiert sind, seit es in Kroatien Demokratie gibt. Eine solche Organisation gab es auch im vorherigen System, da die SDP ihre Wurzeln im ehemaligen Bund der Kommunisten Kroatiens (SKH) hat. Was die Art und Weise unserer Organisation angeht, sind wir etwas traditioneller, während Možemo! unserer Meinung nach etwas lockerer organisiert ist, es gibt mehr Aktivismus und weniger Struktur als bei traditionellen politischen Parteien. Das versteht sich von selbst, da Možemo! aus einer aktivistischen Plattform hervorgegangen ist.
Wenn diese beiden Parteien nicht als politische Konkurrenten, sondern als Partner und Mitarbeiter gesehen werden, kann das nur von Vorteil sein
Was die Wählerbasis angeht, so hat Gordan Recht. Wir haben eine unterschiedliche Wählerbasis, die sich in einem Teil überschneidet. Die SDP wird eher von der traditionellen Wählerschaft gewählt, in der es natürlich viel mehr ältere Wähler*innen gibt, die an die klassischen politischen Strukturen gewöhnt sind. Die neuen politischen Praxen und Partizipationsangebote sind ihnen unbekannt und sie akzeptieren sie nicht so leicht. Auf der anderen Seite sind der jüngeren Generation, die gerade erst auf die Bildfläche tritt, die traditionellen politischen Parteien relativ unbekannt und fremd, während sie dem aktivistischen Modell oder dem Politikansatz, den Možemo! in einem großen Teil seiner Aktivitäten bisher praktiziert hat, vielleicht näher steht.
Im Grunde genommen gibt es, was uns betrifft, viele Überschneidungen, es gibt viele gemeinsame Politiken, die gleiche Richtung. Die Unterschiede beziehen sich eigentlich auf den organisatorischen und methodischen Zugang. Ich bin jedoch der Meinung, wenn diese beiden Parteien nicht als politische Konkurrenten, sondern als Partner und Mitarbeiter gesehen werden, kann das nur von Vorteil sein. Ich glaube, dass wir ein hohes Maß an Übereinstimmung haben und dass wir zusammenarbeiten werden. Die Zukunft wird zeigen, in welcher Form dies genau geschehen wird, aber ich denke, dass eine Zusammenarbeit zwischen Parteien mit einem so ähnlichen politischen Profil nicht nur möglich, sondern auch unvermeidlich ist. Dies wird nicht nur bei den bevorstehenden Wahlen der Fall sein, sondern auch allgemein im Zusammenhang mit der Rolle der Politik in der Gesellschaft. Daher bin ich der Meinung, dass eine Plattform gefunden werden muss, die es ermöglicht, den Bürger*innen verwandte politische Ideen vom gleichen Standpunkt aus zu präsentieren.
> Wie kann man die Nichtwähler*innen mit einer linken, grünen oder sozial-demokratischen Weltanschauung für die Wahlbeteiligung motivieren?
Dalibor Prevendar: Das ist jetzt vielleicht die schwierigste Frage. Wir von der SDP dachten, dass eine Konsolidierung den Wähler*innen mehr Hoffnung geben würde, dass ein Wandel möglich ist. Gordan behauptet, dass es besser ist, mehr Optionen anzubieten, sodass jeder jemanden hat, den er wählen kann. Wir haben einige Analysen durchgeführt, bei denen die Wähler*innen, die sich an erster Stelle für die SDP entscheiden, als zweite Wahl Možemo! angeben und umgekehrt. In unseren Analysen haben wir nicht festgestellt, dass die Wähler*innen gegen eine Koalition von SDP und Možemo! wären.
Und wie können wir die Wähler*innen motivieren, außer durch ein gemeinsames Auftreten? Wir können sie motivieren, indem wir ihnen Hoffnung geben, indem wir ihnen den Glauben geben, dass es Sinn hat, zu den Wahlen zu gehen, dass es jemanden gibt, der die HDZ ablösen und danach Kroatien besser und fairer regieren kann. Jemanden, der Kroatien zum Nutzen und im Interesse der Mehrheit der kroatischen Bürger*innen regieren wird, der Menschen, die von ihrer Arbeit leben und nicht im Interesse korrupter Gruppen. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir bereit sind, eine gerechtere, tolerantere und friedlichere Gesellschaft aufzubauen, nicht eine Gesellschaft, in der sich Angst, Aggression und Intoleranz gegenüber anderen ausbreiten. Es ist wichtig, dass die Wähler*innen erkennen, dass wir uns mit Themen befassen, die für sie wichtig sind, und nicht darum, wer auf welcher Liste stehen wird oder nicht, ob die Koalition unter diesen oder jenen Bedingungen gebildet wird. Man sollte sich nicht zu sehr mit diesen Fragen befassen, da das bei den Menschen den Eindruck erweckt, dass man nur um den Chefsessel kämpft.
Wir müssen zeigen, dass uns die Interessen der Bürger*innen wichtig sind, und nicht die Interessen einzelner Parteien oder einzelner Personen. Wir müssen zeigen, dass wir Ideen und Kapazitäten haben und Menschen, die wissen, wie man das Land regiert. Wir haben auch einen gewissen Vorteil, denn wir haben Kroatien zweimal als sozialdemokratische Regierung geführt, die Kroatien einmal aus der internationalen Isolation und das andere Mal aus der Rezession herausgeführt hat. Sowohl die Regierung von Ivica Račan (2000-2003) als auch die Regierung von Zoran Milanović (2011-2016) haben meiner Meinung nach der kroatischen Gesellschaft Fortschritte gebracht. Auch diese Faktoren können die Wähler*innen motivieren.
Gordan Bosanac: Ich bin davon überzeugt, dass die Mehrheit der Menschen, die Kroatien in den letzten Jahren verlassen haben - und wir sprechen hier von mehreren Hunderttausend Menschen allein seit dem EU-Beitritt Kroatiens - wegen der HDZ gegangen sind. Das sind einige unserer potenziellen Wähler*innen, die nicht mehr in Kroatien sind, die wahrscheinlich gar nicht mehr zur Wahl gehen. Vielleicht haben sie auch noch nie gewählt, aber es gab Wähler*innen, die enttäuscht waren. Das ist eine Herausforderung, die wir jetzt einfach wieder ausgleichen müssen. Außerdem sollte man beim Rating der HDZ berücksichtigen, dass sie sich nur auf diejenigen bezieht, die zur Wahl gehen. Betrachtet man das Ergebnis im Verhältnis zur Gesamtzahl der Wähler*innen, so liegt die HDZ bei nur 12 %.
Wir sind in der Lage, die Wähler*innen zu ermutigen, zur Wahlurne zu gehen
Es gibt also nur sehr wenige, die die HDZ unterstützen, aber das Problem ist, dass die Wahlbeteiligung niedrig ist. Deshalb ist die HDZ keineswegs sicherer Wahlsieger. Wir sehen, dass fast neun von zehn Wähler*innen in diesem Land kein Vertrauen in die HDZ haben. Es gibt also immer noch ein großes Wähler*innenpotenzial, das zu Veränderungen bereit ist. Ein großer Teil dieser Wähler*innen ist passiv, aber ich denke, wir haben den Vorteil, dass Možemo! noch eine relativ neue Partei ist. Außerdem bin ich der Meinung, dass wir in der Lage sind, die Wähler*innen zu ermutigen, zur Wahlurne zu gehen. Wir versuchen, an einer gemeinsamen Vision für das Land zu arbeiten, und wenn diese Vision Funken schlägt, wie zum Beispiel bei den Kommunalwahlen 2021 in der Stadt Zagreb, dann denke ich, dass dies ein zusätzliches motivierendes Moment für die Wähler*innen ist. In diesen vier Jahren [der aktuellen Legislaturperiode im kroatischen Parlament, Anm. d. Red.] haben wir gezeigt, dass wir eine Art von Führung haben, die für die Wähler*innen sehr attraktiv ist. Einige unserer Abgeordneten, insbesondere die weiblichen Abgeordneten, sind in der Öffentlichkeit sehr beliebt.
Ich stimme Dalibor zu, dass wir auch zeigen sollten, was wir bisher erreicht haben. Wir stellen jetzt zum ersten Mal die Stadtverwaltung in Zagreb, wir sind in der Exekutive, und die Sozialdemokratische Partei ist unsere Partnerin in der Stadtversammlung. Ungeachtet aller Schwierigkeiten in Zagreb und der manchmal schlechten öffentlichen Wahrnehmung zeigt das meiner Meinung nach etwas, das für die Wähler*innen interessant sein könnte, nämlich dass wir mutig sind und nicht aus reinem Machtkalkül agieren. Wir treffen Entscheidungen, die manchmal sehr problematisch sind, aber es sind wichtige Entscheidungen. Ich will ein Beispiel nennen: Als wir das Entgelt für Eltern mit mehreren Kindern, die nicht arbeiten gehen, sondern die Erziehung ihrer Kinder übernehmen, reformiert haben, waren damals alle ziemlich zurückhaltend. Aber wir haben diese Maßnahme mit Vollgas vorangetrieben, obwohl uns viele davon abgeraten haben, weil die Entscheidung vor Gericht scheitern und es Probleme geben würde. Aber es hat sich gezeigt, dass alles gut ausgegangen ist. Zudem haben wir auch die Holding umstrukturiert. 700 Leute mussten das Unternehmen verlassen. Es gab viele Ratschläge, dies nicht zu tun, weil die Gerichtsentscheidungen uns zwingen würden, all diese Leute wieder einzustellen. In der Zwischenzeit sind die ersten Gerichtsurteile veröffentlicht worden. Das zeigt, dass es ein mutiger, entschlossener Schritt war. Und nach der Amtszeit des ehemaligen Bürgermeisters Bandić und der HDZ haben wir die Stadt Zagreb im Jahr 2021 insolvent vorgefunden, vielleicht so wie die SDP das Land nach der HDZ vorgefunden hat. Nun, ob es uns gelingen wird und wie es uns gelingen wird, den Wähler*innen zu zeigen, dass dort in der Zwischenzeit einige unglaubliche Dinge passiert sind, das ist eine Frage der Kampagne. Aber ich denke, dass die Menschen sicherlich durch etwas motiviert sein werden, was Kroatien beschäftigt, nämlich die Korruption. Wir haben bisher bewiesen, dass wir eine Partei ohne einen einzigen Korruptionsskandal sind. Das heißt nicht, dass es vielleicht nicht passieren wird, denn wir verwalten jetzt auch größere Systeme, aber ich kann es kaum erwarten, dass es passiert, damit wir zeigen können, wie wir reagieren werden. Meiner Meinung nach sind dies einige wichtige Botschaften für diejenigen, die nicht regelmäßig zur Urne gehen.
> Um die HDZ nach den nächsten Parlamentswahlen von der Macht zu verdrängen, wird womöglich eine Regierungskoalition weit über die Grenze des linken Spektrums benötigt. Können Sie sich eine solche Koalition vorstellen?
Gordan Bosanac: Nein, wir haben sehr deutlich gemacht, dass wir das nicht tun werden, und ich werde Ihnen auch gleich den Grund dafür nennen. Wir denken, dass eine solche Koalition ohne Probleme gebildet werden könnte, aber ich denke auch, dass sie ohne Probleme auseinanderfallen würde. Im Oktober würden die ernsten Probleme beginnen, wenn die Haushaltsberatungen beginnen. Im November wäre alles in den Medien, im Dezember würde niemand mehr miteinander reden und die Regierung würde scheitern. Das hieße, die Macht für die nächsten 40 Jahre an die HDZ abzugeben, und diesen Fehler wollen wir nicht machen.
Wir wollen das Vertrauen der kroatischen Wähler*innen gewinnen, die sich endlich von der Rechten wegbewegen und der Mitte und der Linken ihr Vertrauen schenken wollen. Wir glauben, dass es großartige Menschen und hervorragende Programme gibt, dass es eine Zusammenarbeit zwischen den Parteien gibt. Durch unsere Arbeit im Parlament haben wir gezeigt, dass dies möglich ist und dass das tatsächlich die Lösung ist. Wenn es eine solche Regierung gäbe, wäre sie meiner Meinung nach stabil. Deshalb wollen wir uns nicht auf diese Experimente einlassen, vor allem nicht mit Most, die sich gerade durch diese Erfahrung aus dem Parlament als extrem populistische Partei erweist. Es ist eine Partei, die sich nicht an grundlegende politische Vereinbarungen halten kann. Wir wollen auf keinen Fall mit ihr koalieren, denn mit ihr kann man nichts vereinbaren. Wir wären nicht in der Lage, irgendeine Politik umzusetzen, und dann würde das Ganze sehr schnell auseinanderfallen. Wir wollen keine solche Alibiregierung, eine Interessenregierung, nur um die HDZ zu Fall zu bringen.
Dalibor Prevendar: Gordan hat praktisch und konkret das wahrscheinlichste Szenario beschrieben, das in einer solchen Situation eintreten würde, und zwar auf der Grundlage eines theoretischen Ansatzes, der allgemeinen Funktionsweise politischer Parteien bzw. politischer Bündnisse bzw. Regierungen, die sich aus mehreren Parteien zusammensetzen. Eine Regierung verwaltet das Land auf der Grundlage ihres politischem Programms und mit bestimmten politischen Versprechen, die sie den Bürger*innen vor den Wahlen gegeben hat.
Wenn die Regierung ihre politischen Programme, die Versprechen, die sie den Bürger*innen gegeben hat, erfüllen kann, dann ist diese Regierung sinnvoll. Wenn aber die Regierung ihr politisches Programm nicht umsetzen kann, wenn sie alle politischen Versprechen, die sie den Bürger*innen vor der Wahl gegeben hat, verraten bzw. aufgeben muss, weil, wie Goran sagte, sie jemand erpressen oder provozieren und Probleme verursachen wird, oder wenn es nur darum geht, die Interessen von jemandem zu befriedigen, z. B. dass jemand Geschäftsführer*in eines öffentlichen Unternehmens oder Minister*in wird, dann ergibt es keinen Sinn. Eine Regierung hat keinen Sinn, wenn sie nicht das tun kann, weshalb sie von den Bürger*innen gewählt wurde, nämlich das Programm umzusetzen, mit dem sie zu den Wahlen angetreten ist, und die Versprechen zu erfüllen, die sie den Bürger*innen vor den Wahlen gegeben hat. In diesem Sinne ist es in der Praxis schwierig, sich eine Koalition zwischen verschiedenen politischen Parteien vorzustellen, die gegensätzliche politische Programme, Einstellungen und Wertesysteme haben, ebenso wie eine unterschiedliche Vorstellung von der Politik selbst. Wir als SDP würden unsere linken politischen Programme sicherlich nicht verwerfen. Wir können sie verbessern, sodass sie qualitativ besser sind und zu diesem Zweck gibt es jemanden, mit dem wir politisch zusammenarbeiten. Es kommt aber nicht in Frage, von Dingen Abstand zu nehmen, die wesentlich sind.
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Dalibor Prevendar ist Mitglied des Parteivorstands und Exekutivsekretär der Sozialdemokratischen Partei Kroatiens (SDP), ehemaliger Berater der Ministerpräsidenten in beiden SDP-Regierungen der Republik Kroatien, Zoran Milanović und Ivica Račan.
Gordan Bosanac ist Mitglied des Verwaltungsrats und Pressesprecher der Partei Možemo.
Das Doppelinterview wurde von Dr. Boris Stamenić geführt.
[1] Das D´Hondt-Verfahren ist eine Methode der Umrechnung von Wähler*innenstimmen in Abgeordnetenmandate. Das nach dem belgischen Jurist Victor D´Hondt genannte Verfahren begünstigt stärkere Parteien zum Nachteil schwächerer Parteien. Die Verzerrungen entstehen bei der Abrundung der Quotienten, die bei der Umrechnung von Stimmen in Sitze auftreten.
[2] Das Doppelinterview fand Mitte Januar 2024 statt.
Europa im Blick: Interview mit Tonino Picula, Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei Kroatiens (SDP) im Europäischen Parlament
> Anfang Juni finden die Wahlen zur Neubildung des Europäischen Parlaments statt. Welche Themen werden Ihrer Meinung nach den Vorwahlkampf der sozialdemokratischen Parteien prägen?
Es gibt mehrere Themen, die die sozialdemokratischen Parteien meines Erachtens in ihren Kampagnen hervorheben werden. Diesen Parteien sind die Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat unter den neuen Bedingungen der digitalen Wirtschaft, die zunehmende Prekarität in vielen Sektoren und Ländern der Union und der Kampf für den Umweltschutz weitgehend gemeinsam. Zudem soll die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum erhöht werden. Da das Rechtsstaatsprinzip in einer zunehmenden Zahl von Mitgliedstaaten unter Beschuss steht, ist dies ein weiteres relevantes Thema, bei dem die Linke Raum und Legitimität im Wahlkampf hat. Ebenso die Notwendigkeit, Maßnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen in der europäischen Industrie und in kleinen und mittelständischen Unternehmen sicherzustellen.
Im Bereich der Außenpolitik sind dies sicherlich die strategische Autonomie der EU gegenüber den USA und die Suche nach einem neuen Platz für die Union in der wachsenden multipolaren Ordnung. Die EU ist die einzige Staatengemeinschaft, die sich aktiv für eine internationale Ordnung einsetzt und auf Rechtsstaatlichkeit, Kooperation und Friedenssicherung beruht. Dies muss auch weiterhin so bleiben. Da die EU auch eine multilaterale Organisation sui generis ist, muss sie einen Rückschritt in diesem Bereich als einen direkten Angriff auf das Umfeld ihrer eigenen Existenz betrachten.
> Die Migration wird wahrscheinlich eines der zentralen Themen im politischen und öffentlichen Diskurs im Vorfeld der Wahlen sein. Wie sollten sich die sozialdemokratischen Parteien in den Debatten um Migration und Integrationspolitik positionieren?
Ich glaube, dass es für den Erfolg der Migrations- und Integrationspolitik notwendig ist, diese Herausforderung basierend auf den Grundsätzen der Solidarität und der gemeinsamen Verantwortung gemeinsam als Union anzugehen. Schließlich ist die europäische Geschichte eine Geschichte der Migration und der Integration von Menschen in unsere Gesellschaften, und das sollte auch so bleiben. Bisher haben wir die Herausforderung der Migration, die seit Beginn des Krieges in Libyen ein aktuelles Thema ist, zu lange als akute Krisensituation und nicht als Prozess und langfristiges Thema betrachtet. Der Asyl- und Migrationspakt ermöglicht uns endlich eine faire, sichere und vorhersehbare Steuerung der Migration, die die Menschenrechte achtet und gleichzeitig die Außengrenzen der EU wirksam schützt.
Die EU muss einen klaren Weg für die Migration finden, damit sie legal und sicher ist, damit klar ist, wie das Recht auf Asyl aussieht, damit die Bedingungen, unter denen wir Migrant*innen aufnehmen, menschenwürdig sind und damit die Rechte von Kindern und Minderjährigen als den am meisten gefährdeten Gruppen besonders berücksichtigt werden. Ich halte es für äußerst wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Frage der Bewältigung des Klimawandels auch eine der Fragen einer erfolgreichen Migrationssteuerung ist. Es sind nämlich gerade die an den stärksten industriell entwickelten Ländern der Welt, die am meisten zur globalen Erwärmung beitragen. Dies führt zu Klimaveränderungen, die einige Teile der Welt immer weniger bewohnbar machen, und dann verlassen die Menschen auf der Suche nach grundlegenden Ressourcen wie Ackerland und Trinkwasser das äquatoriale Afrika und Südwestasien und machen sich auf der Suche nach einem besseren Leben auf den Weg nach Europa. Durch den aktiven Kampf gegen den Klimawandel und die Politik der Zusammenarbeit und Hilfe für die am stärksten betroffenen Länder können wir auch dazu beitragen, in diesen Ländern die Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben zu schaffen.
> Die Europawahlen im Jahr 2024 werden in 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stattfinden. Können Sie sich angesichts der aktuellen Dynamik auf dem Westbalkan, die Sie als Berichterstatter des Europäischen Parlaments beobachten, vorstellen, dass die Europawahlen im Jahr 2029 in mehr als 27 Mitgliedsstaaten stattfinden werden?
Seit Beginn der Amtszeit dieser Kommission, die die Präsidentin selbst ehrgeizig als geopolitisch bezeichnet hat, und sogar noch früher habe ich betont, dass die EU die Erweiterungspolitik als ihre erfolgreichste Außenpolitik nutzen muss. Diverse Umstände verlangsamten jedoch den Fortschritt der Beitrittskandidaten, unter denen Montenegro als aussichtsreichster Beitrittskandidat galt. Diese Umstände waren vielfältig und reichten von der Pandemie bis hin zur direkten Einmischung der außenpolitischen Rivalen der Union, wie China und insbesondere Russland, in die internen politischen Prozesse der Beitrittskandidaten. Die EU-Beitrittsperspektive dieser Länder vor 2029 erscheint demnach als eher unwahrscheinlich.
Andererseits ist die Ausweitung der Erweiterungspolitik eher auf die veränderten geopolitischen Umstände und weniger auf echte Fortschritte in den Beitrittsländern zurückzuführen. Die ehemaligen Länder der Ost-Partnerschaft haben sich dem Block der Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan angeschlossen. In meinen Empfehlungen für die neue EU-Erweiterungsstrategie wird darauf hingewiesen, dass alle laufenden Beitrittsverhandlungen bis 2030 abgeschlossen werden sollten. Diese Empfehlungen wurden 2022 vom Europäischen Parlament angenommen.
> Der Beschluss des Europäischen Parlaments vom 22. November 2023, in dem der Rat der Europäischen Union aufgefordert wird, den Prozess der Änderung der EU-Verträge einzuleiten, hat in Kroatien geteilte Reaktionen hervorgerufen. Was beinhaltet der besagte Beschluss und warum haben Sie ihn unterstützt?
Der wichtigste Grund, warum ich den Beschluss unterstützt habe, ist die Tatsache, dass das Einstimmigkeitsprinzip die Europäische Union bei Entscheidungen, die für ihre Stabilität oder Zukunft ausschlaggebend sein können, zu oft verlangsamt oder sogar lähmt. In meinem Bericht über die neue Erweiterungsstrategie, der vom Europäischen Parlament angenommen wurde, habe ich vorgeschlagen, dass Entscheidungen über die Aufnahme von Verhandlungen mit Beitrittskandidaten mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden sollten, ebenso wie über die Aufnahme einzelner Verhandlungsblöcke. Ich bin jedoch der Meinung, dass wir für einige Arten von Entscheidungen weiterhin das Konsensprinzip beibehalten müssen, wie z. B. für den Abschluss des Verhandlungsprozesses mit einem Kandidatenstaat.
Die EU sollte über Mechanismen verfügen, um den Willen Einzelner zu überwinden, die die Prozesse sabotieren
Insbesondere das Verhalten z. B. Ungarns in Fragen der gemeinsamen Verteidigung, speziell in der Frage der Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung, zeigt, dass wir auch innerhalb der Union selbst über Mechanismen verfügen müssen, um den Willen Einzelner zu überwinden, die die Prozesse in der EU sabotieren. Übrigens zielten die letzten Vertragsänderungen ebenfalls auf die Abschaffung der Einstimmigkeit ab. Mit dem 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon, wurde die Zahl der Bereiche erhöht, in denen die qualifizierte Mehrheit Anwendung findet. Der Rat der Europäischen Union (auch Ministerrat genannt), der für den Erlass von EU-Rechtsvorschriften zuständig ist, beschließt je nach Beratungsgegenstand mit einfacher Mehrheit, qualifizierter Mehrheit oder einstimmig. Er muss einstimmig über Fragen entscheiden, die von den Mitgliedstaaten als sensibel angesehen werden. Dies sind zum Beispiel Fragen der Mitgliedschaft, der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik oder der Finanzen. Eine qualifizierte Mehrheit liegt vor, wenn zwei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind: 55 Prozent der Mitgliedstaaten müssen mit "Ja" stimmen (derzeit 15 von 27 Ländern) und der Vorschlag muss von Mitgliedstaaten unterstützt werden, die mindestens 65 Prozent der gesamten EU-Bevölkerung repräsentieren.
> Im Jahr 2024 werden in Kroatien auch die Parlamentswahlen abgehalten. Meinungsumfragen lassen vermuten, dass die SDP mit den Stimmen der Hälfte der Wähler*innen mit sozialdemokratischer Weltanschauung rechnen kann. Mit welchen Themen könnte die SDP unentschlossene Wähler*innen für sich gewinnen, d. h. wie kann man potenzielle Wähler*innen dazu mobilisieren, zur Wahlurne zu gehen?
In den letzten Tagen hat die SDP ihre Chancen auf einen Wahlerfolg bei den für den 17. April angesetzten Parlamentswahlen deutlich erhöht. Die SDP hat eine Koalition aus Oppositionsparteien mit unterschiedlichem politischem Profil zusammengestellt, die entschlossen ist, die rechte Regierung, die Kroatien seit acht Jahren regiert, abzulösen. Ungeachtet der Unterschiede, die objektiv zwischen uns und den Koalitionspartnern bestehen, besteht die SDP programmatisch auf dem Kampf für einen menschenwürdigen Arbeitsplatz und angemessene Löhne, dem Kampf für menschenwürdige Renten, menschenwürdigen Wohnraum und Umweltschutz sowie dem Kampf gegen die fast endemische Korruption. Meiner Meinung nach sind dies die wichtigsten Themen im heutigen Kroatien und das wichtigste Bindeglied zwischen der Sozialdemokratie und den Bürger*innen, die nach radikalen Veränderungen dürsten.
Die Fragen des schriftlichen Interviews stellte Dr. Boris Stamenić.
Demokratie im Griff der dominanten Partei: Interview mit Dario Čepo, außerordentlicher Professor für Soziologie und Politikwissenschaft an der Juristischen Fakultät der Universität Zagreb
> Die Parlamentswahlen finden 2024 zum 11. Mal in Kroatien seit der Wende 1990 statt. Darf man Kroatien inzwischen als eine konsolidierte Demokratie bezeichnen?
Dies ist eine sehr einfache Antwort, danke, dass Sie damit begonnen haben. Kroatien kann nicht als eine konsolidierte Demokratie eingestuft werden. Die Wissenschaftler*innen, die sich mit der Frage der Demokratisierung der Gesellschaft und der Demokratie im Allgemeinen befassen, würden dasselbe sagen. Aber auch normale Bürger*innen auf der Straße, die möglicherweise nichts über die Theorie der demokratischen Konsolidierung wissen, würden diese Antwort geben.
Kroatien ist weit davon entfernt, eine konsolidierte Demokratie zu sein. Das ist an sich nicht unbedingt problematisch, da wir aus einem anderen politischen System hervorgegangen sind und inzwischen sehr große Probleme bewältigt haben: die Transition, die Privatisierung, den Krieg usw. Da es sich jedoch um die Wahlen handelt, die fast 30 Jahre danach stattfinden, würde man erwarten, dass die Demokratielage mittlerweile deutlich besser geworden wäre. Im Jahr 2024 stehen Premierminister Plenkovićs dritte Wahlen vor uns. Es scheint mir, dass das demokratische System in Kroatien heute schlechter steht als 2016, als Plenković als neuer Premierminister angetreten ist.
> Ein Trend der Autokratisierung und Democratic Backsliding sei in vielen Ländern weltweit erkennbar, dennoch mit unterschiedlichen Merkmalen, so die Kernthese der Demokratieforscher*innen. Wie steht es um Kroatien im Vergleich mit anderen EU-Mitgliedstaaten? Was sind gegebenenfalls die Hauptmerkmale der demokratischen Rückschritte Kroatiens?
Ich stimme der These zu, dass das Problem der demokratischen Regression oder Autokratisierung der Gesellschaft nicht nur ein Phänomen auf europäischer, sondern auch auf globaler Ebene ist. Wir können in den letzten 7-8 Jahren eine ganze Reihe von Staaten beobachten, die vorher als konsolidierte Demokratien galten, die sich indes nun als sehr problematisch erweisen. Ob es sich um einen breiteren Trend handelt, in den auch Kroatien passt, oder ob es um einige Besonderheiten geht, die für die Europäische Union relevant sind, muss im Detail betrachtet werden.
Mir scheint, dass es innerhalb der Europäischen Union selbst einige strukturelle Probleme gibt, die eine weitere Stabilisierung der Demokratie in ihren Mitgliedsstaaten verhindern und demnach einen demokratischen Rückschritt in den Mitgliedsstaaten begünstigen. Eines dieser Elemente ist der Einfluss europäischer Parteienfamilien, vor allem der Europäischen Volkspartei. Die EVP ist mehr an die Erhaltung der Macht der Schwesterparteien, beispielsweise der HDZ in Kroatien oder der GERB-Partei in Bulgarien, als an der Kritik an deren Flirt mit autokratischen Tendenzen interessiert.
Ich würde sagen, dass man in letzten Jahren immer mehr innenpolitische Akteure in den EU-Mitgliedstaaten sieht, die nicht mehr an das Mantra glauben, dass Demokratie keine Alternative habe. Stattdessen glauben sie, dass sie die Macht mit allen Mitteln erlangen oder behalten dürfen. Wir haben es also mit einer Kombination aus inländischen Akteuren zu tun, die kein Interesse an Demokratie haben, und supranationalen Akteuren - in diesem Fall auf der EU-Ebene. Diese haben nicht mehr die Macht oder den Willen, solche Politiker*innen zu bestrafen die grundsätzlich aufgehört haben, das demokratische Spiel zu spielen.
> Was sind Ihrer Meinung nach zusätzlich zu dem, was Sie gesagt haben, die Indikatoren für Democratic Backsliding Kroatiens?
Man kann die demokratische Regression an der sehr niedrigen Wahlbereitschaft der Menschen erkennen, an der fehlenden Bereitschaft der Menschen zu glauben, dass es eine demokratische Alternative gibt. In erster Linie ist der demokratische Rückschritt Kroatiens allerdings ein Produkt der Beziehungen zwischen den herrschenden Akteuren, vor allem der konservativen Regierungspartei HDZ, die eine dominante Partei in Kroatien darstellt. Man sollte jedoch nicht nur die HDZ dafür verantwortlich machen, sondern all jene die der HDZ als kleine Koalitionspartner seit sieben oder acht Jahren den Machterhalt ermöglichen. In den letzten Jahren habe ich mich in meiner Forschung auf die Rolle unabhängiger Institutionen als Hüterinnen der Demokratie konzentriert.
Die vorhandenen Schutzmechanismen der Demokratie bieten de facto keinen Schutz
Demnach lässt sich das nahezu unaufhaltsame Interesse der HDZ geführten Koalitionsregierung beobachten, die unabhängigen Institutionen entweder vollständig zu schwächen oder sie durch Ernennung loyaler Kader zu besetzen oder wenn nichts anderes möglich ist, sie einfach zu zerstören. Tatsache ist, dass selbst vom Zugriff politischer Parteien unabhängige Institutionen, von der Kommission zur Verhinderung von Interessenkonflikten bis hin zum Beauftragten für Information, der Landeswahlkommission usw., ihre verfassungsmäßige Rolle als Hüterinnen der Demokratie nicht erfüllen, sondern nur pro forma existieren. Die Demokratie in Kroatien verfügt zwar über einige Schutzmechanismen. In der Realität bieten diese Mechanismen jedoch überhaupt keinen Schutz, weil sie entweder völlig geschwächt oder durch Ernenung loyaler Kader besetzt wurden.
Ein weiteres sehr interessantes Beispiel, das uns zeigt, wie stark die Demokratie in Kroatien bedroht oder in Schwierigkeiten geraten ist, ist die Art und Weise, wie Änderungen in der Wahlgesetzgebung vorgenommen wurden. Dies betrifft vor allem die neue Wahlkreiseinteilung. Wahlen sind wahrscheinlich eines der wichtigsten Instrumente zur Bewahrung der Demokratie in jedem Land. Egal, wie viel Macht oder Stärke man hat, es wird erwartet, dass sich ebenfalls die Oppositionsvertreter*innen an Änderungen der Wahlgesetzgebung beteiligen dürfen. Dies war leider nicht der Fall. Es gibt noch viele weitere Beispiele. Fast alle Vorhaben die HDZ unter Premierminister Plenković in diesen acht Jahren eingeleitet haben, hat die Demokratie in Kroatien zurückgeworfen.
> Wie erklären Sie sich, dass die politische Landschaft in Kroatien seit Jahren von der HDZ dominiert wird, trotz allen Skandalen und Delikten mit hochrangigen Parteimitgliedern in Hauptrollen?
Es gibt mehrere Gründe, die dazu geführt haben. Erstens müssen wir die Tatsache akzeptieren, dass die HDZ die dominante politische Partei in Kroatien ist. Die HDZ hat das politische System Kroatiens geschaffen, sowie die Institutionen und Regeln, die ermöglichen, dass dasselbe System intakt bleibt. Zweitens hat die Partei eine Anreizstruktur nicht nur für eigene Wähler*innen, sondern auch für kleinere politische Parteien geschaffen, um diese für wenig Geld oder einige lukrative Positionen bei Bedarf als Partner*innen gewinnen zu können.
Der dritte große Grund ist die Wahlapathie, aber auch die allgemeine politische Apathie eines großen Teils der kroatischen Gesellschaft. Sie ist das Ergebnis jahrzehntelanger unerfüllter Erwartungen, dass es in Kroatien besser wird. In den letzten Jahren kam es zu einem fast biblischen Exodus einer großen Zahl von Menschen nach Irland, Österreich und Deutschland – dorthin, wo es ihnen besser geht. Nicht nur dort, wo es ihnen materiell und finanziell besser geht, sondern auch dort, wo es ihnen ideologisch und politisch besser geht, wo es anscheinend keine derartigen Probleme wie in Kroatien gibt oder wo sie diese Probleme zumindest nicht erkennen. Damit verließen das Land viele von denjenigen, die früher zu Demonstrationen gingen, was ja auch einen Korrekturmechanismus darstellt. So etwas gibt es heute leider nicht mehr.
Die HDZ spielt ein gutes politisches Spiel für sich selbst
Es handelt sich also um eine Kombination aus der starken, in den frühen 1990er Jahren etablierten Dominanz der HDZ und der großen Abwanderung von Menschen, die die politische Apathie der übrigen von uns hier nochmal verstärkt. Die HDZ spielt zwar ein gutes politisches Spiel für sich selbst, als Partei, deren Interesse darin besteht, an der Macht zu bleiben. Sie tut alles, was sie kann, um die Macht zu behalten. Dennoch ist das langfristig schlecht für die demokratische Stabilität Kroatiens. Ein vierter Grund für die Dominanz der HDZ ist, dass Kroatien ein extrem zentralisiertes Land ist. Die zentrale Regierung in hyperzentralisierten Staaten kann die Entstehung einer Alternative auf lokaler Ebene und darüber hinaus durch Gesetze und öffentliche Maßnahmen verhindern. Nehmen Sie das Beispiel der letzten Steuerreform oder der Hilfsmaßnahmen nach Überschwemmungen oder Erdbeben.[1] Das Muster ist klar erkennbar: Die HDZ nutzt die Mechanismen der nationalen öffentlichen Politik, und zwar nicht nur um die eigene Position bei den bevorstehenden Wahlen zu verbessern, sondern auch, um den lokalen Akteuren aus anderen Parteien, beispielsweise der grünen Partei Možemo, die die Stadtregierung in Zagreb anführt oder dem Bürgermeister Puljak in Split, der der Zentrumspartei angehört, eine Schlinge um den Hals zu legen. Die Bereitschaft, all diese Mechanismen zu nutzen, ist das, was die HDZ an der Macht erhält.
> Lange Zeit beschwerte man sich europaweit wegen der niedrigen politischen Partizipation von Menschen aus bildungsfernen oder sozial benachteiligten Schichten. Die Protestbewegungen der letzten Jahre mobilisierten zwar einen Teil der vorher passiven Bürger*innen und eröffneten den Weg für ihre politische Partizipation, dennoch nicht unbedingt im Sinne der Stärkung einer liberal-demokratischen Ordnung. Wie schätzen Sie das Entwicklungspotenzial einer anti-liberalen, autoritären oder verfassungswidrigen politischen Bewegung in Kroatien ein?
Sie haben sehr gut darauf hingewiesen, dass manche enttäuschte Bürger*innen nicht nur in Europa den Ausweg aus der politischen Apathie in neuen politischen Kräften suchen, die kein Interesse am Erhalt der liberal-demokratischen politischen Ordnung zeigen. Sicherlich handelt es sich hier hauptsächlich um eine Reaktion auf die wirtschaftliche Lage, auf die Probleme der derzeitigen Phase des Kapitalismus. Manche Bürger*innen haben inzwischen nicht nur den Glauben an eine bessere Zukunft, sondern an irgendwelche Zukunftsperspektive verloren. Aus diesem Grund entscheiden sie sich, die radikalsten politischen Optionen auszuprobieren, lediglich um zu sehen, was passieren kann.
Einerseits erwarte ich nicht, dass in Kroatien ein großer antidemokratischer Akteur entsteht. Andererseits brauchen wir einen solchen antidemokratischen Akteur nicht, weil wir ihn im politischen System oder im Parteiensystem Kroatiens schon lange haben. Hier rede ich nicht in erster Linie über die HDZ, sondern über alle Parteien von Mitte-Rechts bis zur extremen Rechten. Nicht nur in Kroatien stellt sich bei den rechten Parteien die Frage, ob sie die Demokratie um jeden Preis verteidigen würden. Ich glaube aber, dass die bereits existierenden oder zukünftigen antidemokratischen Akteure keine Bedrohung für die etablierten politischen Parteien in Kroatien darstellen. Viel mehr können solche Akteure die bereits etablierten Parteien durch eine Koalition mit ihnen dazu bringen, den Demokratiekurs zu verlassen, um zusammen mit ihren neuen Partnern auf der antidemokratischen Welle zu reiten.
Die Zersplitterung des Parteienspektrums begünstigt die demokratische Regression
Am Ende möchte ich noch hinzufügen, dass wir viel über die HDZ gesprochen haben, also über die Rolle der Regierungspartei bei der demokratischen Regression. Die Situation um die linken und liberalen Parteien ist aber auch einer der Gründe für den Mangel an Demokratie in Kroatien. Die sehr große Zersplitterung des Parteienspektrums, die Unfähigkeit, ein gemeinsames Interesse am Erhalt der Demokratie als wesentliches integratives Element zu finden, ist auch das, was es der HDZ ermöglicht, weiterhin zu dominieren und zu herrschen. Wenn wir uns die jüngere kroatische Geschichte ansehen, ist es der HDZ in den letzten 30 Jahren nur auf zwei Arten gelungen, die Macht zu verlieren: Ein Element des Machtverlusts der HDZ von der Macht ist der interne Konflikt innerhalb der Partei, der auch heutzutage besteht. Plenković versucht mehr oder weniger das Problem zu lösen, indem er alle kritischen Elemente in die Regierung einbezieht und sie so an die Regierung bindet, wie im Fall des neuen Verteidigungsministers Ivan Anušić. Eine zweite Vorbedingung für den Machtverlust der HDZ war in früheren Fällen das gemeinsame Auftreten der gesamten Opposition bei zentralen Themen wie dem Schutz der Demokratie ist.
Eines der „guten Dinge“, die Plenković für die HDZ getan hat, war, dass er es ermöglichte, den „Sanitärkordon“ zu beseitigen, den manche politischen Parteien gegenüber der HDZ früher aufgebaut hatten. Plenković hat es geschafft, die Parteiführer*innen der Mitte und einen Teil der Linken davon zu überzeugen, dass die HDZ eine ganz normale Partei ist sowie, dass es möglich ist, mit ihr zu verhandeln und zu agieren. Darüber hinaus hat Plenković einen großen Teil der kroatischen Gesellschaft davon überzeugt, dass er der Beste ist, den die Rechte hervorbringen kann, und dass wir an ihm festhalten müssen, sonst wird etwas Schlimmeres passieren. Dies ermöglichte es ihm, dem kleinen Stück Demokratie, das sich in Kroatien entwickelt hatte, ein Ende zu setzen, ohne dass die meisten von uns oder die Mehrheit der Gesellschaft es überhaupt zur Kenntnis genommen hätten, geschweige denn ihre Stimme erhoben oder auf die Straße gegangen wären. Das ist meine Hauptkritik daran, was in diesen zehn Jahren in Kroatien passiert. Vielleicht ist dies ein Schlüsselindikator für den Niedergang der Demokratie in Kroatien.
Das Interview wurde von Dr. Boris Stamenić geführt.
[1] Die im Jahr 2023 durchgeführte Steuerreform ermächtigte die lokalen Regierungen, den Einkommensteuerbetrag für den Zweck der Finanzierung des lokalen Haushalts unabhängig zu erhöhen. Damit erzwang die HDZ Regierung, vor allem die Bürgermeister der großen Städte, in denen die HDZ an der Exekutive nicht teilnimmt, eine höhere Einkommenssteuer einzuführen, um das Budget auszugleichen.
Es gibt noch viel Luft noch oben: Interview mit Maja Sever, Präsidentin der Gewerkschaft kroatischer Journalist*innen und der Europäischen Journalist*innen-Föderation
> 2024 steht das Superwahljahr in Kroatien an. Eine freie Berichterstattung ist für einen fairen Wahlkampf unverzichtbar. Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Medienfreiheit in Kroatien ein?
In Kroatien fehlt es leider nach wie vor an echtem politischem Willen, ein rechtliches Umfeld für die unabhängige Arbeit von Journalist*innen zu schaffen und diese angemessen zu regeln. Unsere Regierung scheint kontinuierlich irgendwelche Lücken mit partiellen Änderungen in der Gesetzgebung zu schließen. Tatsächlich verhalten wir uns die ganze Zeit so, als befänden wir uns in der Vorbeitrittsphase, in der wir Mängel beheben müssen, um die Anforderungen der Europäischen Union zu erfüllen. So werden wir im Medienbereich dank des auf europäischer Ebene verabschiedeten Europäischen Rechtsaktes zur Medienfreiheit einige Dinge wieder in Ordnung bringen können. Dazu gehört z.B. das Gesetz über die öffentliche Rundfunk- und Fernsehanstalt HRT. Das Wichtigste fehlt jedoch auch weiterhin, nämlich der politische Wille, den Mediensektor wirklich zu regeln. Kurz gesagt, die Situation ist nicht gut, da die bedeutendsten Faktoren abwesend sind: Die Entscheidung und der politische Wille, die unabhängige journalistische Arbeit in der Republik Kroatien zu gewährleisten.
Die Entscheidung des Ministerpräsidenten Plenković, an der Änderung des Strafgesetzes und der Einführung neuer Straftatbestände festzuhalten, wird die Bestrafung von Hinweisgeber*innen ermöglichen. Diese Hinweisgeber*innen sind bedeutend da sie die Informationen aus Gerichtsverfahren an Journalist*innen vermitteln. Obwohl Ministerpräsident Plenković sagte, dass das Gesetz für Journalist*innen eine Ausnahmeregelung vorsehen würde, wird dies für uns in unserer täglichen Arbeit eigentlich keine Bedeutung haben. Dadurch kann tatsächlich jede Zusammenarbeit mit einer bestimmten Quelle für die unabhängige journalistische Arbeit potenziell gefährlich sein. Diese Tatsache, sowie die verbalen Angriffe auf die Kolleg*innen des Fernsehsenders N1, die sich in letzter Zeit häufen, vertiefen die Unsicherheit der Journalist*innen bei der Arbeit. Gleichzeitig zeigen sie, in welchem Zustand wir das Superwahljahr angehen.
> Welche Schritte müssten konkret von welchen Akteur*innen unternommen werden, um einen fairen Zugang aller politischen Strömungen zu den Leitmedien sicherzustellen?
Die Regelung könnte mit der Verabschiedung einer Medienstrategie beginnen, die es seit Jahrzehnten nicht gibt, obwohl sie seit vielen Jahren angekündigt wurde. Ihre Verabschiedung wäre ein Zeichen des guten Willens der herrschenden politischen Strukturen. Die Medienstrategie könnte die Grundlage für den Aufbau eines gesamten Rahmens sein, der den Medienpluralismus und den freien und unabhängigen Journalismus schützt. Dies wäre der Beginn eines echten Wandels und einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Journalist*innen in Kroatien.
Auf Grundlage der Medienstrategie sollten dann Änderungen anderer Gesetze erfolgen, von denen ich nur einige grundlegende nennen möchte: Das Mediengesetz muss unbedingt geändert werden, weil es veraltet ist. Das Medienumfeld hat sich mit der Entwicklung der Technologie und den veränderten Publikumsgewohnheiten sehr stark gewandelt. Allein aus diesem Grund muss es überarbeitet werden. Diesen Sommer hatte die Regierung ein neues Mediengesetz vorgelegt, gegen welches wir heftig protestiert haben, weil es mehrere Dinge vorsah, die für uns absolut inakzeptabel waren Dazu gehören Maßnahmen wie die Schaffung eines Journalistenregisters und die Bevorzugung der Mainstream-Printmedien bei der Verteilung öffentlicher Gelder und staatlicher Werbegelder, was unserer Meinung nach eine gewisse Form der Diskriminierung auf dem Medienmarkt darstellt. Das konnten wir einfach nicht akzeptieren.
Wir haben ein sehr schlechtes Gesetz über die öffentliche Rundfunk- und Fernsehanstalt HRT und jede politische Partei kündigt im Wahlkampf an, es zu ändern. Obwohl es Teil des Vorwahlprogramms der Kroatischen Demokratischen Union (HDZ) war, haben sie das Gesetz über die öffentliche Rundfunk- und die Fernsehanstalt HRT während der gesamten Legislaturperiode nicht angerührt. Dies ist gerade in dem Teil problematisch, der jetzt im Widerspruch zum verabschiedeten Europäischen Rechtsakt zur Medienfreiheit steht und sich auf die unabhängige Verwaltung und unabhängige Finanzierung der öffentlichen Mediendienste bezieht.
Das geltende Gesetz über die öffentliche Rundfunk- und Fernsehanstalt HRT schreibt vor, dass sowohl der Generaldirektor als auch die Mehrheit im Aufsichtsrat und die Mehrheit im Programmrat von HRT mit einfacher politischer Mehrheit gewählt werden. Das Gesetz ermöglicht also einen direkten Einfluss der politischen Mehrheit auf alle Leitungsgremien des öffentlich-rechtlichen Mediendienstes. Jetzt müssen sie das wegen des Europäischen Rechtsaktes zur Medienfreiheit ändern, aber es wäre ein wirklich gutes Zeichen gewesen, wenn sie das schon früher getan hätten.
Journalist*innen können nicht unabhängig sein und nicht unabhängig arbeiten, wenn ihre Existenz nicht abgesichert ist
Aus gewerkschaftlicher Sicht ist es äußerst wichtig, den gewerkschaftlichen Dialog mit den Arbeitgeber*innen im Mediensektor zu stärken. Um einen gewissen Fortschritt beim Schutz des Medienpluralismus, der Entwicklung und dem Schutz der Unabhängigkeit der Journalist*innen bei ihrer Arbeit zu erreichen, müssen wir mit dem Schutz der Arbeitsrechte beginnen. Journalist*ínnen können nicht unabhängig sein und nicht unabhängig arbeiten, wenn ihre Existenz nicht abgesichert ist und sie nicht sicher sein können, dass sie ihre Rechnungen und Kredite bezahlen können, dass sie nicht willkürlich vom Arbeitgeber entlassen werden. Heute gibt es in den kroatischen Medienhäusern nur zwei starke Tarifverträge, von denen sich einer auf die Beschäftigten der öffentlichen Medien bezieht. Im Vergleich dazu hatten wir vor fünfzehn Jahren elf Tarifverträge.
Die Gewerkschaft kroatischer Journalist*innen versucht, Verhandlungen mit den Arbeitgebern sowohl auf nationaler Ebene, als auch auf Ebene der einzelnen Medienunternehmen aufzunehmen. Aber es ist schwierig für uns, die Arbeitgeber im Mediensektor dazu zu bewegen, sich auf irgendeine Art von sozialem Dialog einzulassen, geschweige denn auf Tarifverhandlungen.
Ein weiteres Problem ist der fehlende politische Wille, die Gesetzgebung in Bezug auf die Schadenersatzklagen zu ändern. Die sog. SLAPP Klagen bzw. die strategischen Klagen gegen öffentliche Beteiligung stellen eine große Belastung und einen großen Druck für die Journalist*innen in Kroatien dar. Wenn ich meine Kolleg*innen frage, was für sie der größte Druck ist, wovor sie am meisten Angst haben, was sie zur Selbstzensur verleiten könnte - ob das Attacken, tätliche Angriffe oder Online-Attacken sind - antworten die meisten von ihnen, dass ihre größte Angst eine neue Schadenersatzklage ist. Eine Schadenersatzklage bedeutet eine langwierige Gerichtsverhandlung, einen ungewissen Ausgang, sowie die Ungewissheit, ob das Urteil einen finanziellen Rückschlag für die Redaktion bedeuten wird. Manchmal sind von solchen Klagen kleine Redaktionen betroffen, die größere Klagen gar nicht bewältigen können. Was die Schadenersatzklagen betrifft, so müssen die Empfehlungen auf europäischer Ebene in den Entscheidungsprozess einfließen. Kroatien muss in diesem Bereich wirklich einen großen Schritt (nach vorn) machen.
Wenn ich schon die Sicherheit und den Schutz der Sicherheit von Journalist*innen angesprochen habe, ist der nächste Schritt, den ich mir erhoffe, wäre die Aufnahme eines Dialogs mit den Arbeitgebern. Sie sollten ebenfalls bestimmte Mechanismen und Unterstützungsleistungen für die Menschen bereitstellen, die in ihren Redaktionen arbeiten, wenn sie Angriffen ausgesetzt sind.
> Im Jahr 2023 belegte Kroatien den Platz 42 auf der globalen Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Damit hat das jüngste EU-Mitgliedsland nicht nur einen Fortschritt im Ranking erlangt, sondern auch ein besseres Ergebnis im Vergleich zu sieben anderen EU-Mitgliedern erzielt. Würden Sie sagen, dass die Pressefreiheit in Kroatien Fortschritte macht?
Ich denke, dass das Bild im Bericht von Reporter ohne Grenzen tatsächlich eine Reihe partieller Veränderungen darstellt. Diese Änderungen haben sich entweder aufgrund der Verpflichtungen Kroatiens ergeben, die nationalen Vorschriften an die europäischen anzugleichen, oder aufgrund neuer europäischer Gesetze, die wir anwenden mussten, wie z.B. die Urheberrechtsgesetze. Diese Gesetze zwingen unsere Gesetzgeber einfach dazu, bestimmte Dinge zu ändern.
Gleichzeitig ist die Verbesserung aber auch eine Folge des internen Drucks, bestimmte Umstände zu verändern. Meiner Meinung nach hat auch die gemeinsame Aktion des Kroatischen Journalist*innenverbandes und der Gewerkschaft kroatischer Journalist*innen teilweise (vielleicht) dazu beitragen, dass sich einige Dinge zum Besseren wenden. In letzter Zeit gab es glücklicherweise keine physischen Angriffe auf Journalist*innen und andere Kolleg*innen im Mediensektor, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben. Dies verbessert die Bewertung Kroatiens im Ranking sicherlich deutlich. Andererseits hat sich die Medienlage in anderen Ländern wie Slowenien oder Italien verschlechtert, was sich auch auf die Veränderungen in der Rangliste von Reporter ohne Grenzen auswirkt.
Das Interview wurde von Dr. Boris Stamenić geführt.
Die Projektpartizipation ist ein transformativer Prozess: Interview mit Igor Bajok, Leiter des Projektes „Bürger*innenrat Rijeka“
> Ende 2023 haben Sie ein neuartiges Partizipationsprojekt in Rijeka implementiert, für welches Bürger*innen aus allen Gesellschaftsbereichen zufällig ausgelost wurden. Worum ging es?
Igor Bajok: Die Grundidee des Projekts "Bürger*innenrat Rijeka" bestand darin, einen Prozess vorzubereiten und durchzuführen, der sich an den Standards orientiert, nach denen Bürger*innenversammlungen oder -räte in anderen Teilen Europas organisiert sind. Mit dem Projekt wollten wir erstens das Interesse und die Motivation zufällig ausgewählter Bürgerinnen und Bürger von Rijeka prüfen, sich durch sieben Treffen im Zeitraum vom 3.11. bis zum 8.12.2023 an einem politischen Prozess zu beteiligen. Zweitens wollten wir mit dem Projekt die Funktionalität des deliberativen und partizipativen Modells der Bürgerbeteiligung überprüfen. Dazu befassten wir uns mit einem Thema, das ebenfalls eine ganze Reihe deliberativer, bzw. partizipativer Instrumente beinhaltet, und zwar der lokalen Selbstverwaltung. Die zentrale Frage in diesem Projekt war, wie man das System der lokalen Selbstverwaltung verbessern und die aktive Beteiligung der Bürger*innen an den Entwicklungsprozessen der lokalen Gemeinschaft erhöhen kann.
Mit anderen Worten, die Idee war, ein Beteiligungsmodell zu verwenden und gleichzeitig andere Beteiligungsinstrumente und -kanäle zu stärken, die es in Rijeka oder Kroatien bereits gibt, die gesetzlich vorgeschrieben sind oder die sich in unserer lokalen Gemeinschaft bewährt haben. Darüber hinaus wurden andere partizipative Instrumente und Modelle eingesetzt, um Informationen zu erhalten und die Schlüsselakteure ins System der lokalen Selbstverwaltung und der aktiven Bürgerschaft einzubeziehen.
> Wie haben die Bürger*innen von Rijeka auf die Initiative reagiert? Wie repräsentativ war die Gruppe, die sich schließlich beteiligt hat?
Igor Bajok: Nachdem die ersten Informationen über das Pilotprojekt veröffentlicht wurden, gab es eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Art und Weise, wie die Bürger*innen eingeladen und in den Bürger*innenrat einbezogen werden. Nachdem das Verfahren klarer wurde, war das Interesse tatsächlich sehr groß. Die Hauptkriterien für die Zusammensetzung der Gruppe waren Alter, Geschlecht und Wohnort. Schließlich gelang es uns, den Rat in der von uns gewünschten Form zu bilden, wobei eine Person bei der ersten Sitzung zurücktrat, sodass wir letztendlich einen Rat mit 33 Mitgliedern aus 33 verschiedenen Stadtteilen bildeten, darunter 17 Frauen und 16 Männer im Alter von 22 bis 74 Jahren.
Das Projekt stellte unter Beweis, dass sich Leute mit dem richtigen Format für die Partizipation leicht gewinnen lassen
Die Einrichtung des Bürger*innenrats gemäß den angestrebten Kriterien war eine der großen Herausforderungen, da diese Methodik bisher weder in Rijeka noch in Kroatien angewandt wurde. Es bestand eine gewisse Besorgnis darüber, ob die Bürger*innen von Rijeka bereit sein würden, in knapp anderthalb Monaten sieben Tage lang an einem Thema zu arbeiten, das vielleicht nicht so attraktiv ist und in den Medien nicht so stark beworben wird. Die Sorgen waren dennoch unbegründet. Das Projekt stellte unter Beweis, dass sich Leute mit dem richtigen Format für die Partizipation leicht gewinnen lassen. Wir hatten erwartet, dass es im Laufe des Verfahrens mehr Rückzüge geben würde, aber von den 33 Bürger*innen, die sich am Verfahren beteiligten, gab niemand auf. Im Durchschnitt nahmen 29 Ratsmitglieder an den Sitzungen teil.
> Die These, dass Kroat*innen für politische Partizipation kaum zu begeistern sind, scheint durch den Erfolg des Bürger*innenrates wiederlegt zu sein. Wie kann man mehr Bürger*innen für eine konstruktive politische Partizipation gewinnen?
Igor Bajok: Das ist eine sehr gute und relativ komplexe Frage. Es ist zunächst äußerst wichtig, dass Konsultationsprozesse oder die Beteiligung der Bürger*innen an Entscheidungsprozessen so durchgeführt werden, dass sie zielgerichtet und ehrlich sind und bestimmte Ergebnisse bringen. Zudem ist es bedeutend, dass sie Einfluss haben und dass die Bürger*innen über das Thema gut informiert sind und dass die Methode und die Instrumente der Beteiligung im Hinblick auf den zu erreichenden Zweck gewählt werden. Es ist nicht dasselbe, wenn die Stadt beispielsweise eine Umfrage mit einer einfachen Frage in ihren sozialen Netzwerken veröffentlicht, um einen Eindruck von der öffentlichen Meinung zu einem bestimmten Thema zu erhalten, oder einen Bürger*innenrat organisiert, der siebenmal mit 33 Bürger*innen zusammenkommt. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es eine ganze Reihe von Instrumenten, die jeder nutzen kann, der die Stimme der Bürger*innen in Entscheidungsprozessen hören will.
Etliche Lehren aus dem Partizipationsprozess
Es ist äußerst wichtig, dass die Prozesse transparent, die Rollen klar sind, und dass die Erwartungen von Beginn an klargestellt werden. Darüber hinaus ist es bedeutsam, dass die Beteiligten motiviert sind, sich weiter und verstärkt an anderen Instrumenten zu beteiligen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden. In Kroatien gibt es zahlreiche Beispiele für bewährte Verfahren, bei denen ein Instrument kontinuierlich eingesetzt und weiterentwickelt wird, wie z. B. der Bürger*innenhaushalt in der Stadt Pazin, dem Verwaltungszentrum der Gespanschaft Istrien. Dieses Instrument löste eine Welle der Anwendung dieses Modells in anderen Gemeinden und Städten Kroatiens aus. Dies zeigt, dass dieser Prozess für alle Akteure, die Angestellten der Stadtverwaltung und die aktiv teilnehmenden Bürger*innen einen Wandel herbeiführen kann. Die Voraussetzung hierfür ist, dass man partizipative Prozesse ohne einen Missbrauch des Vertrauens der beteiligten Bürger*innen und Wähler*innen durchführt. Eine weitere Lehre aus diesem Partizipationsprozess ist, dass die Bürger*innen, Entscheidungsträger*innen und die für die Umsetzung zuständigen Stellen der öffentlichen Hand Partner*innen bei der Festlegung der Ziele und Abläufe in einem bestimmten Bereich oder in einer lokalen Gemeinschaft sein können. Deshalb darf man den Bürger*innen, die sich an den Prozessen beteiligen, nichts vormachen. Man sollte um jeden Preis vermeiden, dass sie enttäuscht werden, weil sie den Eindruck haben, dass ihre Beteiligung keinen Einfluss hat, sondern nur eine Marketingmaßnahme für die Behörden ist.
> Welche Veränderungsprozesse haben Sie bei den Beteiligten wahrgenommen? Haben Sie den Eindruck, dass sich ihr Interesse, gesellschaftspolitisch aktiver zu werden, erhöht hat?
Igor Bajok: Es war äußerst interessant zu verfolgen, wie sich die anfängliche leichte Skepsis, die Unsicherheit und die Erwartungen der Teilnehmenden beim ersten Treffen bis hin zum letzten Treffen verändert haben. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von ihnen, nicht einmal die Organisatoren und wir, erwartet hat, dass der Prozess so reibungslos verlaufen und so effektiv sein würde. Wir hatten nicht erwartet, dass die Arbeit des Bürger*innenrats Rijeka zu so vielen und so unterschiedlichen Empfehlungen und Vorschlägen führen würde. Diese Ergebnisse zeigen unter anderem, dass die Teilnehmer*innen daran interessiert sind, weiterhin an partizipativen Prozessen teilzunehmen, aber auch, dass sie sich dafür einsetzen, dass der Bürger*innenrat und ähnliche Instrumente weiterhin in Rijeka und in anderen Teilen der Republik Kroatien eingesetzt und organisiert werden. Für alle Beteiligten, auch für die Mitglieder des Bürger*innenrats, war es also ein transformativer Prozess. Dies wurde durch regelmäßige Evaluierungen bestätigt.
Jede Sitzung wurde bewertet. Dann haben wir eine abschließende Bewertung vorgenommen, deren Ergebnisse einfach phänomenal sind. Wir müssen sagen, dass wir unglaublich zufrieden damit sind, wie die Mitglieder des Bürger*innenrats ihre eigene Teilnahme, ihren Beitrag zum Prozess und die Organisation und Durchführung des gesamten Prozesses bewertet haben. Die gute Vorbereitung, das Engagement der Menschen, die sich dem Bürger*innenrat angeschlossen haben, die Kommunikation und Atmosphäre seit der ersten Sitzung haben zu diesem Resultat einen wichtigen Beitrag geleistet.
> Welche Rolle haben der Bürgermeister von Rijeka, Marko Filipović, und die Stadtverwaltung gespielt?
Igor Bajok: Die Rolle des Bürgermeisters Filipović ist vielfältig. Er ist die Person, die so hinter dem Prozess stand, dass er eigentlich der Initiator ist und die mutige Entscheidung getroffen hat, trotz eigener Skepsis den ersten Bürger*innenrat im Rahmen des Pilotprojektes einzurichten und einzuberufen. Bürgermeister Filipović ist derjenige, der das Thema des Bürger*innenrats von Rijeka, d. h. das Thema der lokalen Selbstverwaltung, vorgeschlagen hat. Außerdem hat er den Bürger*innenrat von Rijeka eröffnet, sodass er an der ersten Sitzung teilnahm, in der er alle Ratsmitglieder ansprach und begrüßte. Danach zog er sich – ganz wie es die Methode vorsieht – aus dem Verfahren aus und kehrte erst bei der siebten, bzw. letzten Sitzung zurück, als die Mitglieder des Bürger*innenrats in sein Büro und in die Stadtverwaltung kamen und ihm 90 Empfehlungen und Vorschläge zur Verbesserung der kommunalen Selbstverwaltung übergaben. Der Bürgermeister beeinflusste also in keiner Weise inhaltlich die Arbeit des Bürger*innenrats. So war es im Vorhinein abgesprochen, so war das Verfahren angelegt. Es wäre aber wichtig zu ergänzen, dass man Bürger*innenräte nur dann machen sollte, wenn das Backing der Politik im Voraus gegeben ist, sich die Forderungen zumindest anzuhören und dazu Stellung zu nehmen. Sonst besteht das Risiko, dass die Bürger*innen nachher politisch noch frustrierter sind, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen. Dieses „ernstnehmen“ hat die Stadt Rijeka von Beginn an ausgestrahlt.
Was die Stadtverwaltung angeht, so hat die NGO SMART als Organisator und Koordinator der Gründung des Bürger*innenrats Rijeka während des Verfahrens sehr intensiv und effizient mit einem Dutzend Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung zusammengearbeitet. Die Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung verinnerlichten das Verfahren, akzeptierten es mit vollem Verständnis und setzten sich mit größtem Engagement für seine qualitativ hochwertige Vorbereitung und Durchführung ein, ohne dabei den Inhalt und die Gestaltung des Verfahrens selbst zu beeinflussen. Ich denke, dass der große Verdienst für die erfolgreiche Umsetzung dieses Pilotprojekts bei den Menschen liegt, mit denen wir in der Stadtverwaltung zusammengearbeitet haben, denn es ist ein Projekt und ein Ansatz, der über ihre reguläre Arbeit hinausgeht und von ihren eigentlichen Arbeitsaufgaben in der Stadtverwaltung unabhängig ist. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ihnen zu danken und darauf hinzuweisen, wie wichtig es ist, dass der Initiator der Organisation des Bürger*innenrats versteht, dass ein gewisser Teil seiner eigenen Ressourcen - nicht nur finanziell, sondern auch personell, räumlich und anderweitig - investiert werden muss, damit dieses Verfahren hochwertig und effizient durchgeführt werden kann - unabhängig davon, wer für die Organisation des gesamten Verfahrens verantwortlich ist. Es ist eine gute Praxis, die Organisation des Verfahrens einer unabhängigen, neutralen Organisation zu überlassen. Dies ist in der Regel eine zivilgesellschaftliche Organisation, die sich mit den Themen Partizipation, kommunale Entwicklung usw. befasst.
> Welches Thema stand im Fokus und welche zentralen Forderungen haben die Bürger*innen vorgelegt?
Igor Bajok: Die Grundidee des Projekts bestand darin, das System als Ganzes zu betrachten, seine guten und schlechten Seiten zu analysieren und anschließend Empfehlungen zu geben. Die Empfehlungen sollten aufzeigen, wie das gesamte System, das gesamte Konzept der lokalen Selbstverwaltung und die aktive Beteiligung der Bürger*innen im Rahmen der lokalen Selbstverwaltung verbessert werden können. Es war sehr wichtig, dass die Bürger*innen erkennen, dass es sich um ein informelles Beratungsgremium handelt, welches keine Entscheidungen trifft. Der Bürger*innenrat trifft Entscheidungen auf der Grundlage seiner eigenen Empfehlungen, aber er nimmt keinen direkten Einfluss und trifft keine Entscheidungen anstelle von jemand anderem - weder anstelle des Stadtrats, noch des Bürgermeisters, noch der lokalen Ausschüsse.
90 Empfehlungen zur Verbesserung der kommunalen Selbstverwaltung
Das Projekt wurde in mehreren Phasen durchgeführt. Nach dem ersten Treffen und der Einarbeitung in die Arbeitsregeln, sowie dem gegenseitigen Kennenlernen, durchliefen die Teilnehmer*innen die Bildungsphase, die Lernphase, die Konsultationsphase, die Empfehlungsphase und legten die Empfehlungen am Ende dem Bürgermeister der Stadt Rijeka vor. In diesem Prozess kristallisierten sich fünf zentrale Themen heraus: (1) Information der Bürger*innen über die kommunale Selbstverwaltung, (2) Verbesserung der Kenntnisse und Fähigkeiten im System der kommunalen Selbstverwaltung, (3) Einbeziehung der Bürger*innen ins System der kommunalen Selbstverwaltung, (4) Beteiligung der Bürger*innen an Entscheidungsprozessen und (5) effektive kommunale Selbstverwaltung. Innerhalb der fünf genannten Bereiche wurden für jeden unter ihnen Empfehlungen formuliert, insgesamt also 90 Empfehlungen. Es wurde nicht darüber gesprochen, ob irgendwo ein Zebrastreifen angelegt werden sollte oder nicht, ob irgendwo ein anderer Aspekt des kommunalen Systems verbessert werden sollte, sondern es wurden 90 Empfehlungen erarbeitet, die zur Verbesserung des gesamten Systems der kommunalen Selbstverwaltung beitragen sollten.
> Welche weiteren Schritte sind geplant?
Igor Bajok: Das Mandat des Bürger*innenrats von Rijeka endete zu dem Zeitpunkt, als die Empfehlungen Bürgermeister Filipović vorgelegt wurden. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich um 90 Empfehlungen handelt, wurde mit der Stadtverwaltung vereinbart, dass diese Empfehlungen nun im städtischen System analysiert werden müssen.[1] Demnach kann das nächste Treffen des Bürgermeisters Filipović mit den Ratsmitgliedern stattfinden. Dabei wird sich der Bürgermeister auf diese 90 Empfehlungen beziehen, einen allgemeinen Überblick über den Prozess und die Empfehlungen geben und sagen, in welcher Dynamik und in welcher Weise die Empfehlungen in der Arbeit der Stadtverwaltung und aller relevanten Akteure umgesetzt werden, und welche nicht umgesetzt werden und warum. Darüber hinaus ist ein weiteres Treffen im Rahmen des Follow-up-Prozesses geplant, bei dem der Bürger*innenrat herausfinden wird, was mit seinen Empfehlungen geschehen wird. Darunter waren einige Empfehlungen sehr spezifisch und präzise, währenddessen andere eher allgemeiner Art waren.
Alle öffentlichen Behörden in der Republik Kroatien sind verpflichtet, zu Beginn des Jahres eine Liste von Rechtsakten und Dokumenten zu veröffentlichen, die dem öffentlichen Beratungsverfahren unterzogen werden sollen. Es ist sehr erfreulich, dass die Liste der Stadt Rijeka auch zwei öffentliche Anhörungen zu Themen enthält, die von Ratsmitgliedern im Bürger*innenrat Rijeka vorgeschlagen wurden. Zum einen geht es darum, eine Entscheidung über die Organisation und die Arbeit der Bürger*innenversammlungen zu treffen. Neben dem Referendum sind die Bürger*innenversammlungen das einzige Instrument, mit dem die Bürger*innen in Kroatien über etwas direkt entscheiden können. Eine weitere Entscheidung, die in den Prozess der öffentlichen Beratung einfließt, ist die Möglichkeit der Einreichung von Bürgerbegehren und Vorschlägen bei den Behörden. Wir sehen also, dass zwei Empfehlungen in den öffentlichen Beratungsprozess einfließen und bereits in gewisser Weise mit Leben gefüllt worden sind.
Die Mitglieder des Bürger*innenrates haben drei Sitzungen vorgeschlagen, denen Bürgermeister Filipović bereits zugestimmt hat. Bei der ersten Sitzung wird Bürgermeister Filipović die eingegangenen Vorschläge und Empfehlungen prüfen. Die zweite Sitzung ist für das späte Frühjahr dieses Jahres geplant, also zu einem Zeitpunkt, an dem die Stadt noch am Haushalt für das kommende Jahr arbeitet. Bei dieser Sitzung soll erörtert werden, ob einige der Empfehlungen, die auch eine finanzielle Unterstützung erfordern, ihren Platz im Haushalt der Stadt Rijeka für 2025 finden können. Die dritte Sitzung sollte Ende des Jahres stattfinden, d. h. ein Jahr nach der Durchführung des Prozesses. Bei dieser Sitzung soll geprüft werden, was in der Zwischenzeit umgesetzt wurde und was die nächsten Schritte sind. Ich finde es großartig, dass wir bereits drei im Voraus anberaumte Sitzungen haben, um Folgeaktivitäten durchzuführen und die Auswirkungen der Empfehlungen des Bürger*innenrats zu verfolgen.
Es ist äußerst wichtig, dass das Gremium, welches den Bürger*innenrat einberuft und einsetzt, die politische Verantwortung für die Umsetzung zumindest eines Teils der Vorschläge und Empfehlungen des Bürger*innenrats übernimmt. Die Tatsache, die im Fall Rijekas ein wenig abgemildert wird, ist, dass wir ein Pilotprojekt durchführen. Es gibt jedoch Bürger*innenräte, bei denen im Voraus vereinbart wird, dass der Initiator des Bürger*innenrats eine gewisse Anzahl von Empfehlungen umsetzen wird, die einen bestimmten Prozentsatz an Unterstützung im Bürger*innenrat erhalten. Dies sind einige weitere Schritte, mit denen die Stadt dem Bürger*innenrat die Legitimation und das Recht gibt, über bestimmte Themen zu entscheiden, die ihm vorgelegt werden. Der Bürger*innenrat Rijeka wurde nicht als ständiges Gremium konzipiert. Der Rat schlug jedoch dem Bürgermeister vor, die Möglichkeit zu prüfen, den Mechanismus des Bürger*innenrats in den Entscheidungsprozessen der Stadt Rijeka durch einen Ad-hoc-Bürger*innenrat, aber auch durch einen ständigen Bürger*innenrat zu institutionalisieren. Im Laufe des Jahres 2024 werden die Ergebnisse der Arbeit des Bürger*innenrats Rijeka vorgestellt. Das Ziel ist, dass sich zivilgesellschaftliche Organisationen, lokale Selbstverwaltungseinheiten und die interessierte Öffentlichkeit mit den Ergebnissen, Erfolgen, Misserfolgen und Lektionen vertraut machen können, die sie bei ihren Bemühungen gelernt haben, und mit der Idee, Bürger*innenräte als Modell in anderen Teilen der Republik Kroatien einzuführen.
Das Interview wurde von Dr. Boris Stamenić geführt.
[1] Das Interview mit Igor Bajok fand Ende Januar 2024 statt.