Justizversagen, Korruption, mangelnde Transparenz: Was passiert mit dem Rechtsstaat in Kroatien?
In dieser Ausgabe des „Blickpunkts“ bekommen wir eine politische Übersicht über die massiven Korruptionsskandale und deren Konsequenzen, die Reaktion von Regierung und Opposition, sowie über die Ursachen der Krise kroatischen Justizsystems.
Mit dieser Ausgabe des „Blickpunkts“ verabschieden wir uns nach 14 Jahren der Zusammenarbeit von dem Redakteur und Herausgeber des „Blickpunkts“, Nenad Zakošek. Nenad Zakošek hat das Format geprägt und durch sein herausragendes Netzwerk in den progressiven Kreisen Kroatiens bereichert. Wir bedanken uns sehr für seine Zusammenarbeit! Die Redaktion des „Blickpunkts“ übernimmt der Zagreber Politikwissenschaftler Boris Stamenić.
1. Seit dem EU-Beitritt Kroatiens sind wir Zeugen der Regression rechtsstaatlicher Institutionen
2. Die Europäische Union und Korruptionsbekämpfung in Kroatien
3. Ursachen der Krise der Justiz in Kroatien
Editorial
von Nenad Zakošek
In vielen (vergleichsweise) neuen EU-Mitgliedsstaaten in Mittel- und Osteuropa wird die Konsolidierung der Demokratie durch Defizite der Justiz und des Rechtsstaates erschwert. Rumänien und Bulgarien wurde bei ihrem EU-Beitritt 2007 ein „Kooperations- und Verifikationsmechanismus“ auferlegt, der das Funktionieren rechtsstaatlicher Institutionen verfolgt. Diese Einschränkung einer Vollmitgliedschaft sollte nur temporär angewandt werden, aber auch 15 Jahre später ist der Mechanismus noch immer wirksam, weil die rechtsstaatlichen Defizite nicht überwunden wurden. In Polen und Ungarn haben herrschende rechtsnationalistische Parteien konstitutionelle Veränderungen durchgesetzt, die die Unabhängigkeit der Justiz in Frage stellen und der Exekutive die Beeinflussung der Gerichte ermöglichen. Diese beiden EU-Mitgliedsstaaten entfernen sich durch diese Praktiken zunehmend von liberal-demokratischen Grundwerten der Europäischen Union, weswegen sie seitens der Europäischen Kommission mit Sanktionen belegt werden.
Probleme im Funktionieren der Justiz und des Rechtsstaats wurden auch in Kroatien während der EU-Beitrittsverhandlungen als das größte Hindernis für die kroatische Mitgliedschaft in der Europäischen Union erkannt. Kroatien musste institutionelle Reformen durchführen und zahlreiche Bedingungen hinsichtlich rechtsstaatlicher Institutionen erfüllen, bevor es 2013 der EU beitreten konnte. In dieser Zeit wurden die Reformen der Justiz optimistisch bewertet. Es wurde erwartet, dass Kroatien als EU-Mitglied die positive rechtsstaatliche Entwicklung fortsetzen wird. Heute wissen wir, dass diese Erwartung eine Illusion war. In vielerlei Hinsicht hat die Justiz in Kroatien seit 2013 eine Regression erfahren. Institutionelle Verbesserungen der Justiz kommen nicht durch stetige Evolution zustande, sondern durch einen unaufhörlichen Kampf zwischen Akteuren, die die Justiz ihren Interessen unterordnen wollen und den Reformkräften in Politik und Gesellschaft, die sich um eine unabhängige, verantwortliche und transparente Justiz in Kroatien bemühen.
In dieser Ausgabe des „Blickpunkts“ widmen wir uns verschiedenen Aspekten der Probleme in der Funktionsweise der Justiz in Kroatien: Die Aktivistin und Parlamentsabgeordnete der links-ökologischen politischen Plattform Možemo!, Sandra Benčić, erklärt in ihrem Interview den breiteren Kontext und die politischen Bedingungen des Funktionierens der Justiz in Kroatien. Die angesehene Journalistin und Expertin für Fragen der Justiz Slavica Lukić untersucht in ihrem Beitrag, wie sich die neuesten Interventionen der Europäischen Staatsanwaltschaft in Kroatien auf die Arbeit der kroatischen Staatsanwaltschaft auswirken. Und der Professor an der Juristischen Fakultät der Universität in Zagreb, Alan Uzelac, erklärt in seinem Beitrag die Ursachen der Krise der Justiz in Kroatien.
Die Interviews und Beiträge erhalten vor dem Hintergrund der aktuellen Korruptionsskandale, die die kroatische Politik und Gesellschaft erschüttern, weitere Brisanz.
Mit dieser Ausgabe des „Blickpunkts“ beende ich nach 14 Jahren meine Arbeit als Redakteur und Herausgeber des Newsletters. Der „Blickpunkt“ geht weiter, die Redaktion übernimmt der Zagreber Politikwissenschaftler Boris Stamenić. Ich bin überzeugt, dass der „Blickpunkt“ auch in Zukunft einen weiten Kreis von interessierten Leser*innen erreichen wird.
Seit dem EU-Beitritt Kroatiens sind wir Zeugen der Regression rechtsstaatlicher Institutionen
Interview mit Sandra Benčić
> Wie beurteilen Sie die Funktionsweise des Rechtstaats in Kroatien nach dem EU-Beitritt?
Benčić: Was einigermaßen funktioniert ist der Transfer des EU-Rechts, also die Übernahme der EU-Richtlinien. Formal gesehen funktioniert alles; die europäischen Rechtsstandards werden ohne Verzug umgesetzt. Was jedoch nach dem EU-Beitritt Kroatiens nicht funktioniert, ist die Förderung einer institutionellen Kultur, die ein adäquates Niveau von rechtlichen Regeln und Standards absorbieren kann. Diese Förderung wurde beendet, als Investitionen in Zivilgesellschaft und teilweise in Medien zum Zweck des Aufbaus einer demokratischen Kultur und des Schutzes der Menschenrechte eingestellt wurden. Es wird nicht mehr daran gearbeitet, dass unsere institutionelle Kultur und unsere Werte die europäischen Regeln unterstützen. Als ein Beispiel hierfür erwähne ich das Verhalten, welches ich häufig bei Richter*innen oder in der Staatsverwaltung antreffe: Nehmen wir also ein Gesetz, wodurch das europäische Recht in das kroatische Rechtssystem umgesetzt wird. Neben diesem Gesetz gibt es weitere Elemente des EU-Rechts - Verordnungen und Richtlinien - , welche sich ebenfalls auf die durch das Gesetz regulierte Materie beziehen.
Ohne diese zusätzlichen Vorschriften bleibt die gesetzliche Regelung in Kroatien mangelhaft, aber die direkte Anwendung des EU-Rechts, welches hierarchisch höher gestellt ist, funktioniert in Kroatien nicht. Bei uns besteht nicht das Bewusstsein darüber, dass der Besitzstand der EU ein Teil des kroatischen Rechts ist - er wird noch immer als etwas Äußerliches verstanden.
> Ist diese inadäquate institutionelle Kultur teilweise auch eine Folge der ausbleibenden Kommunikation zwischen der Zivilgesellschaft und den staatlichen Institutionen, also der Staatsverwaltung, der Justiz und den politischen Amtsträgern?
Benčić: Wenn diese Kommunikation nur gelegentlich stattfindet, bleibt sie formalistisch. Es fehlen klare Botschaften über die Werte. Als z. B. Premierminister Plenković den Europäischen Green Deal öffentllich vorstellte, betonte er, dass Kroatien alle Richtlinien umsetzen und eine Vorreiterrolle in der grünen Transformation übernehmen würde, jedoch ohne dabei zu erklären, warum wir das tun werden. Er hat also überhaupt nichts über Ziele und Werte der grünen Transformation gesagt, warum sie für uns und unsere Kinder wichtig ist.
Ähnlich sprach er über die Justizreform: In der Debatte über die Wahl des/der Präsident*in des Obersten Gerichtshofes Kroatiens war das Hauptargument von HDZ und Plenković, dass dieses Amt eigentlich nicht wichtig sei, weil die für die Justizreform notwendigen Gesetze und Entscheidungen von der parlamentarischen Mehrheit und der Regierung vorbereitet würden. Es ist aber falsch zu sagen, der/die Präsident*in des Obersten Gerichthofes sei nicht wichtig, weil es absolut wesentlich ist, welche Werte die Person an der Spitze der richterlichen Gewalt vertritt und wie er/sie über diese Werte und die angestrebte institutionelle Kultur kommuniziert. In Kroatien findet der Umstand, dass institutionelle Kultur die Grundlage einer effektiven Justiz und Staatsverwaltung ist, keine Beachtung.
Ein grober politischer Fehler der HDZ-Regierung war die Reduktion der Finanzierung zivilgesellschaftlicher Organisationen
> Wie können Zivilgesellschaft und Medien diese institutionelle Kultur beeinflussen? Ist es mit der Rückkehr der HDZ an die Macht im Jahr 2016 in dieser Hinsicht zu einem Rückschritt gekommen?
Benčić: Ja, es ist auf jeden Fall zum Rückschritt gekommen. Ein gravierender politischer Fehler war die Reduktion der Finanzierung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich mit den Themen befassen, welche für die demokratische Kultur wichtig sind - egal ob sie auf Expert*innenebene Korruptionsbekämpfung, Transparenz oder Justiz thematisieren, oder ob sie das auf der Basis demokratischer Werte tun.
Im Prozess des EU-Beitritts waren diese Organisationen in der Lage, die politische Agenda zu beeinflussen. Während der Regierung von Zoran Milanović, 2011-2015, gab es Programme, die Mittel für diese Organisationen bereitgestellt haben. Infolge des Regierungswechsels Anfang 2016 hat sich diese Politik unter der HDZ-Regierung von Tihomir Orešković und Tomislav Karamarko[1] völlig geändert. Viele Programme wurden nicht mehr durchgeführt und es gab keine öffentliche Ausschreibung für Programme zur Bekämpfung der Korruption oder zum Schutz der Menschenrechte. Zudem wurde die Finanzierung unabhängiger Kulturprogramme stark gekürzt, usw. Es ist sehr bezeichnend für den Charakter der jetzigen HDZ-Regierung, dass Premierminister Plenković diese Politik fortgesetzt hat.
Die HDZ-Regierung hat eine gewisse Neigung, unabhängige Kontrollinstitutionen - wie die Kommission zur Entscheidung über Interessenkonflikte - in ihrer Arbeit zu beschränken
> Gibt es eine Neigung der HDZ-Regierungen, unabhängige Kontrollinstitutionen wie die Kommission für Entscheidung über Interessenkonflikte, den Informationsbeauftragten oder die Bürger*innenbeauftragte (Ombudsfrau), in ihrer Arbeit zu beschränken?
Benčić: Ja, genau das geschieht. Die HDZ-Regierung tut dies entweder auf formaler Ebene, also durch Gesetzesänderungen, die Kompetenzen dieser Institutionen beschneiden, oder auf anderen Wegen – bspw. durch ungenügende Finanzierung oder durch Marginalisierung dieser Institutionen, z. B. indem die Jahresberichte dieser Institutionen im kroatischen Parlament sogar mit drei-vier Jahren Verspätung auf die Tagesordnung kommen. Kürzlich fand im Parlament die Debatte über die Berichte der Bürger*innenbeauftragten aus den Jahren 2018, 2019 und 2020 statt. Die Berichte wurden rechtzeitig in die parlamentarische Prozedur geschickt, aber die Regierung hat sie nicht auf die Tagesordnung gesetzt.
Die Rolle der Kommission zur Entscheidung über Interessenkonflikte wurde wesentlich durch das Urteil des Hohen Verwaltungsgerichts begrenzt, wodurch die Möglichkeit verneint wurde, dass die Kommission über Verletzung der Amtsausübung nach Artikel 5 des Gesetzes entscheidet. Dieser Artikel definiert die Pflicht der Amtsinhaber*innen, ihr Amt nach Prinzipien der Ehrlichkeit, Unparteilichkeit und Verantwortlichkeit auszuüben. Es gibt einen starken Widerstand dagegen, dass Amtsinhaber*innen politisch zur Rechenschaft gezogen werden. Deswegen wurde auch die Kompetenz der Kommission für Entscheidung über Interessenkonflikte beschnitten, zu entscheiden, ob Amtsinhaber*innen ihr Amt ehrlich, verantwortlich und unparteilich ausüben. Das ist schlecht für die Entwicklung der demokratischen politischen Kultur in Kroatien.
Die Staatsanwaltschaft handelt nicht konsequent gemäß einer institutionellen Kultur der Unabhängigkeit von der exekutiven Gewalt
> Wie sehen sie die Position der Staatsanwaltschaft nach der Verhaftung des Ministers für Raumordnung, Bauwesen und Staatseigentum Darko Horvat und der Eröffnung von Ermittlungen gegen andere Mitglieder der Regierung?
Benčić: Die Staatsanwaltschaft handelt nicht konsequent gemäß einer institutionellen Kultur der Unabhängigkeit von der exekutiven Gewalt. Es gibt in der Staatsanwaltschaft, ebenso wie im Amt zur Bekämpfung der Korruption und der organisierten Kriminalität (USKOK), Menschen, die sich für eine selbständige und von der Exekutive unabhängige Position einsetzen, aber es gibt auch solche, die das nicht unterstützen.
Ein großes Problem besteht darin, dass die Generalstaatsanwältin Zlata Hrvoj-Šipek, die die Institution leitet, aus der zivilrechtlichen Abteilung der Staatsanwaltschaft kommt. Die Aufgabe dieser Abteilung besteht in der Vertretung der Interessen der Republik Kroatien in zivilrechtlichen Rechtsfällen. Es ist klar, dass sie in einer institutionellen Kultur handelte, die darauf ausgerichtet war, die Interessen des Staates nach Vorgaben der Exekutive zu schützen. Es ist also eine gegenteilige Logik von der, die für jenen Teil der Staatsanwaltschaft gilt, der sich um unabhängiges Handeln in strafrechtlichen Rechtsfällen bemüht. Deswegen vermute ich, dass die Ermittlungen, die zur Verhaftung von Minister Horvat geführt haben, an der Generalstaatsanwältin vorbei unternommen wurden, und dass sie in die Lage gedrängt wurde, in der sie das tun musste. Das wird auch daran sichtbar, dass die Staatsanwaltschaft gewissermaßen zurückgewichen ist, nachdem der Premierminister in Reaktion auf die Verhaftung des Ministers Horvat die Staatsanwaltschaft in beispielloser Weise angegriffen hat.
> Wie wirkt sich Ihrer Meinung nach die Eröffnung des Strafverfahrens seitens der Europäischen Staatsanwaltschaft gegen die ehemalige Ministerin für regionale Entwicklung und EU-Fonds, Gabrijela Žalac, auf die kroatische Staatsanwaltschaft aus?
Benčić: Ich bin der Ansicht, dass dies einen großen Einfluss auf die kroatische Staatsanwaltschaft hat. Anhand des Falles der ehemaligen Ministerin Gabrijela Žalac hat man verstanden, dass in Straffällen, in welchen die kroatische Staatsanwaltschaft keine Strafermittlungen einleitet, dies nun die Europäische Staatsanwaltschaft tun wird. Dies führt dazu, dass sich die kroatische Staatsanwaltschaft vor der kroatischen Öffentlichkeit rechtfertigen muss. Deswegen ist die Aktivität der Europäischen Staatsanwaltschaft in Kroatien sehr willkommen. Die Standards, die sie setzt, werden auch das Handeln der kroatischen Staatsanwaltschaft beeinflussen. Ähnliches sehen wir jetzt im Falle des früheren stellvertretenden Premierministers Tomislav Tolušić, der auf Veranlassung der Europäischen Staatsanwaltschaft verhaftet wurde. Diese Ermittlungen betreffen zwar nur die Fälle der Veruntreuung von EU-Geldern, aber offensichtlich gibt es auf diesem Gebiet viel Korruption und Klientelismus.
> Wie beurteilen Sie die Lage der kroatischen Gerichte, insbesondere die Effektivität und Qualität der richterlichen Arbeit?
Benčić: Die unbefriedigende Lage der Gerichte ist viel mehr ein Problem des Systems, als der Richter*innen. Die Richter*innen beschäftigen sich am wenigsten mit der eigentlichen richterlichen Arbeit, also der Auslegung von rechtlichen Normen und ihrer Anwendung auf konkrete Fälle. Stattdessen sind sie durch viele administrative Verfahren belastet, die eigentlich durch Gerichtsbeisitzer*innen erledigt werden sollten.
Ein anderes Problem ist die Art und Weise, in der kroatische Richter*innen Rechtsnormen anwenden bzw. interpretieren. Darüber hat die Kandidatin für das Amt der Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Prof. Zlata Đurđević, in ihrem Programm geschrieben, sowie Richter Radovan Dobronić, der in dieses Amt gewählt wurde. Es fehlt eine teleologische Interpretation der Rechtsnormen, d. h. eine Auslegung im Einklang mit dem Zweck der Rechtsnorm.
Schließlich liegt ein Problem auch im Berufsprofil der Richter*innen: In Kroatien überwiegen im Gerichtswesen Berufsrichter*innen, die unmittelbar nach ihrer akademischen Ausbildung an Gerichten beschäftigt werden - zunächst als Beisitzer*innen und danach als Richter*innen. Možemo! ist der Auffassung, dass sich die Richter*innenschaft als Beruf öffnen muss und mindestens ein Fünftel der Richter*innen aus anderen Rechtsberufen kommen sollten, also aus den Reihen der Anwält*innen und der akademischen Jurist*innen. Bei uns fehlt diese Durchlässigkeit zwischen dem Gerichtswesen und anderen juristischen Berufen.
> Was denken Sie über die aktuellen Reforminitiativen des Justizministers Ivan Malenica, die Regeldauer von Gerichtsverfahren vorschreiben zu wollen?
Benčić: Diese Reformen sind eine Fortsetzung der alten HDZ-Politik, die eine Justizreform vortäuscht, aber eigentlich nur kosmetische Änderungen vornimmt. Eine Reform bedeutet nicht, Fristen vorzuschreiben, in denen Richter*innen einzelne Rechtsfälle abschließend behandeln müssen, sondern das Paradigma der Funktionsweise der Justiz zu ändern. Das Vorschreiben von Fristen ist nicht sinnvoll, weil sich Rechtsfälle voneinander unterscheiden. Ein weiteres Problem besteht darin, dass öffentliche Körperschaften, insbesondere die Einheiten der lokalen Selbstverwaltung und kommunale Unternehmen, nicht veranlasst werden, Streitigkeiten außergerichtlich zu schlichten. Wir versuchen das in Zagreb durchzusetzen, wo wir Streitfälle vorgefunden haben, die mehr als ein Jahrzehnt nicht entschieden worden sind.
Možemo! versucht als linke parlamentarische Opposition mit anderen Mitte-Links- Parteien, progressive Lösungen anzubieten
>Wie beurteilen Sie Ihre zweijährige Erfahrung der parlamentarischen Arbeit im Kroatischen Sabor?
Benčić: Možemo! versucht als linke parlamentarische Opposition, zusammen mit einigen anderen Fraktionen progressive Lösungen anzubieten. Wir arbeiten mit Abgeordneten der SDP, der Sozialdemokrat*innen außerhalb der SDP, der HSS, des Zentrums, der IDS, der GLAS und der Arbeiter*innenfront[2] zusammen. Diese Vorschläge werden von der HDZ und Fraktionen rechter Parteien abgelehnt. HDZ verhält sich überwiegend als eine Mainstream-Partei, die manchmal von rechts angegriffen wird, z. B. durch radikale Vorschläge der rechten Parteien während der Covid-Pandemie, die sich zum Sprachrohr der Verschwörungstheoretiker*innen entfaltet haben. Obwohl die HDZ Vieles in der Pandemie falsch gemacht hat, haben sie niemals die Impfung in Frage gestellt. Deswegen haben wir in dieser Situation die parlamentarische Mehrheit unerstützt. Schließlich gibt es Situationen, in denen die gesamte Opposition gemeinsam auftritt, wie etwa bei der Bildung von parlamentarischen Untersuchungskommissionen aufgrund der Korruption oder bei Misstrauensanträgen gegenüber HDZ-Minister*innen.
> Welche Erfahrung hat Možemo! in der Verwaltung der Hauptstadt Zagreb gemacht, die sie seit vergangenem Jahr leiten? Wird Možemo! es schaffen, ihre programmatischen Ziele zu verwirklichen?
Benčić: Seitdem wir 2021 die Verwaltung der Stadt übernommen haben, sind wir in Zagreb darauf konzentriert, die angehäuften Probleme zu lösen, die Schulden zu begleichen und den Haushalt zu stabilisieren. Auch in den kommenden Jahren muss der Haushalt so konzipiert werden, dass die Stadt ihre zu hohe Verschuldung reduziert. Erst unter dieser Voraussetzung entsteht der notwendige Raum für neue Investitionen und für die neue Funktionsweise der Stadt.
Wir mussten die Anzahl der Ressorts in der Stadtverwaltung verringern, durch öffentliche Ausschreibungen neue Führungskräfte für die Leitung der Ressorts auswählen, viele völlig überflüssige Arbeitsplätze im Zagreber Holding-Unternehmen abschaffen und gleichzeitig neues Personal für operative Aufgaben einstellen. Zagreb ist außerdem eine Stadt, welche der ehemalige Bürgermeister Milan Bandić in den letzten 20 Jahren institutionell hat völlig verwahrlosen lassen - fast keine städtische Institution hat adäquate Geschäftsverfahren und eine angemessene Organisationskultur. Wir sind als Aktivist*innen nun in der Situation, dass wir die notwendigen Institutionen aufbauen müssen, was als ein Paradox klingen mag, weil wir als aktive Bürger*innen früher gegen bestimmte Institutionen und ihre Praxis gekämpft haben. Erst jetzt sind wir in der Lage, neue Politiken zu implementieren, z. B. eine neue Politik der Abfallbewirtschaftung, neue Bildungspolitik mit der Einführung der Bürger*innenschaftskunde, neue Wohnungspolitik oder neue Politiken der grünen Transformation. Schon in diesem Jahr haben wir einen Schritt vorwärts gemacht und im nächsten Haushaltsjahr werden größere Fortschritte möglich sein. Mit der SDP als Juniorpartner in der Stadt arbeiten wir gut zusammen, insbesondere mit dem SDP-Politiker Joško Klisović, der den Vorsitz im Stadtparlament innehat. Er engagiert sich stark bei der Suche nach konstruktiven Lösungen.
> Wie sehen Sie die Chancen der Možemo! und anderer linker Parteien an den nächsten Parlamentswahlen, die für Herbst 2024 vorgesehen sind?
Benčić: In Kroatien gibt es für die linken politischen Optionen eine große Chance, einen Wahlerfolg zu erreichen. Sie hängt davon ab, ob die linken Parteien ihre Themen auf die Tagesordnung setzen können. Wir dürfen nicht nur auf Regierungspolitik reagieren, sondern müssen unsere eigene Agenda voranbringen. Ein Beispiel der Themen, die von Možemo! auf die Tagesordnung gesetzt wurden, ist die Regelung des Verbots des Verkaufs von Verbraucherschulden an spezialisierte Agenturen, die durch zweifelhafte Methoden die Zahlung der Schulden eintreiben. Ein anderes Beispiel ist der Schutz der Adriaküste gegen übermäßige Bebauung. Bisher haben wir sieben oder acht solche Gesetzesinitiativen eingebracht. Die HDZ-Mehrheit im Parlament lehnt diese Vorschläge ab, obwohl sie manchmal zugeben muss, dass diese Vorschläge inhaltlich gut sind. Deshalb müssen wir gleichzeitig die Bürger*innen für diese Themen mobilisieren. So gewinnt man das Vertrauen der Bürger*innen und mobilisiert auch jene, die sonst vielleicht nicht wählen, zur Wahl zu gehen.
[1] Orešković war von Januar bis Oktober 2016 parteiloser Premierminister, Karamarko von Januar bis Juni 2016 erster Vizepremier und als Vorsitzender der HDZ der eigentliche starke Mann der Regierung (Anm. d. Red.).
[2] Die Akronyme beziehen sich auf die Sozialdemokratische Partei (SDP), Kroatische Bauernpartei (HSS), Istrische Demokratische Versammlung (IDS) und den Bürgerlich-liberalen Bund (GLAS).
Die Europäische Union und Korruptionsbekämpfung in Kroatien
von Slavica Lukić
Die Staatsanwaltschaft Kroatiens, die laut Verfassung ihre Arbeit unabhängig ver-richten sollte, steht seit jeher in Verdacht, sich mit der Regierung abzusprechen und nur in jenen Fällen der Korruption auf hohem Niveau und des Amtsmissbrauchs Ermittlungen zu unternehmen, die für die Regierung nicht politisch brisant sind. Dieser Verdacht war besonders stark zur Amtszeit eines der Vorgänger der aktuellen Generalstaatsanwältin Zlata Hrvoj Šipek, Mladen Bajić. Die Arbeit der 2017 gegründeten Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO), die seit 2021 auch in Kroatien Fälle der Korruption auf hoher Ebene und des Geldmissbrauchs bei der Verwendung von EU-Fonds ahndet, zeigt neuerdings auch Konsequenzen für die Arbeit der Staatsanwaltschaft Kroatiens.
Der Fall, in dem die Ermittler*innen des Amtes zur Bekämpfung der Korruption und der organisierten Kriminalität (USKOK) am 10. November 2021 an die Tür der ehemaligen Ministerin für Regionalentwicklung und europäische Fonds, Gabrijela Žalac (HDZ), geklopft haben, um sie wegen einer verdächtigen Softwarebeschaffung für das Ministerium in die Untersuchungshaft zu nehmen, ist aus drei Gründen interessant.
Die Arbeit der 2017 gegründeten Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO), die seit 2021 auch in Kroatien Ermittlungen durchführt, hat Konsequenzen für die Arbeit der Staatsanwaltschaft Kroatiens
Erstens aufgrund der Tatsache, dass zum ersten Mal eine (Ex-)Ministerin verhaftet wurde, die ihren Posten in der Regierung von Andrej Plenković bekleidete und aus „seiner“ HDZ stammt, nicht aus jener unter Karamarko oder Sanader[1]. Plenković hat sich wiederholt bemüht, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Korruption, die bei der HDZ sogar in einem Gerichtsprozess nachgewiesen wurde (Urteil im Fall „Fimi-media“ vom Oktober 2021), ein Merkmal der Partei in der Vergangenheit war und die heutige HDZ davon frei ist.
Zweitens, weil im Fall Žalac die kroatische Öffentlichkeit zum ersten Mal erfahren hat, dass in Kroatien Strafverfahren wegen Korruption nicht mehr dem Monopol der Staatsanwaltschaft (DORH) und des USKOK unterliegen, sondern seit dem 1. Juni 2021 diese Verfahren auch durch die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO) veranlasst und durchgeführt werden können. Die EPPO ist befugt, aufgrund Veruntreuung von Finanzmitteln aus dem EU-Haushalt gegen verantwortliche Personen Ermittlungen einzuleiten.
Drittens, und dies ist am Wichtigsten, wurde offenbart, dass die EPPO die Ermittlungen aufgrund jener Beweise initiiert hat, die auch der DORH zur Verfügung standen – diese Beweise wurden jedoch seitens der DORH zur Seite geschoben, weil man noch Anfang 2020 zum Schluss gekommen war, dass kein Grund zur Strafverfolgung bestand. Der Fall wäre wahrscheinlich für immer in den Schubladen des USKOK geblieben, wenn nicht der investigative Journalist Andrej Dimitrijević vom Portal Telegram HR, der 2019 die suspekte Softwarebeschaffung im Mandat der Ministerin Gabrijela Žalac untersuchte, die damals gesammelten Dokumente an das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) geschickt hätte, welches diese der EPPO weiterleitete.
Anfang 2020 zum Schluss gekommen war, dass kein Grund zur Strafverfolgung bestand. Der Fall wäre wahrscheinlich für immer in den Schubladen des USKOK geblieben, wenn nicht der investigative Journalist Andrej Dimitrijević vom Portal Telegram HR, der 2019 die suspekte Softwarebeschaffung im Mandat der Ministerin Gabrijela Žalac untersuchte, die damals gesammelten Dokumente an das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) geschickt hätte, welches diese der EPPO weiterleitete.
Nur sechs Tage nach dem Fall Žalac ereignete sich ein Geschehen, welches zusätzlich das Vertrauen in die DORH erschütterte: DORH zog seine eigene Anklageschrift im Fall Agrokor gegen den ehemaligen Eigentümer des Unternehmens Ivica Todorić und weitere 14 Personen zurück, die im September 2021 aufgrund von Wirtschaftsstraftaten erhoben worden war[2]. Die Anklageschrift wurde zurückgezogen, weil Verdacht bestand, dass die ehemalige Stellvertreterin des Gespanschaftsstaatsanwalts in Zagreb, Mirela Alerić Puklin, die an diesem Fall gearbeitet hatte, die geheimen Daten aus den Ermittlungen an Piruška Canjuga, eine der 15 Angeklagten, weitergeleitet hat. Infolgedessen könnte die vierjährige Ermittlungsarbeit der DORH in diesem äußerst komplexen und umfassenden Fall kompromittiert sein. DORH behauptet, dass die Anklageschrift nur temporär zurückgezogen wurde, um „die Sachen besser zu erklären“.
Die Staatsanwaltschaft Kroatiens ist ein Teil der Justiz, der noch bis vor Kurzem höheres Ansehen genoss als die Gerichte
Der Fall Žalac und das Zurückziehen der Anklageschriftt im Fall Agrokor haben das Vertrauen in die kroatische Staatsanwaltschaft erschüttert - insbesondere angesichts des Umstands, dass DORH einen Teil der Justiz darstellt, der noch bis vor kurzem höheres Ansehen genoss als die Gerichte. Das Vertrauen in die DORH war gestiegen, nachdem sich 2009 der ehemalige Premierminister Ivo Sanader von seinem Amt zurückzog und danach USKOK und DORH eine Welle von Strafermittlungen gegen ihn und seine Mitarbeiter an der Staatsspitze initiiert hatten. Die Ermittlungen haben einen starken Eindruck auf die Öffentlichkeit gemacht und man war geneigt zu vergessen, dass diese Ermittlungen aufgrund der suspekten Geschäfte Sanaders erst dann erfolgten, als er nicht mehr im Amt war. Das waren die Jahre vor dem kroatischen Beitritt zur Europäischen Union und Kroatien versuchte krampfhaft, die Brüsseler Institutionen davon zu überzeugen, dass die kroatische Justiz unabhängig und fähig ist, Korruption auch auf höchster Staatsebene zu bekämpfen.
Der Enthusiasmus der Öffentlichkeit gegenüber USKOK und DORH hat seit jener Zeit stetig abgenommen hat, proportional zur Dauer der Gerichtsverfahren in den bekanntesten Korruptionsfällen. Die Blamage und das Stolpern in den zwei großen Fällen ‒ Žalac und Agrokor ‒ haben zusätzlich das Vertrauen in die DORH beschädigt. Der Schaden ist sogar größer als jener, als im Februar 2020 Generalstaatsanwalt Dražen Jelenić nach knapp zwei Jahren seines Mandats zum Rücktritt gezwungen wurde, weil bekannt wurde, dass er bei seiner Ernennung verschwiegen hatte, Mitglied in einer Fraumaurerloge zu sein[3]. Der Glaubhaftigkeit der DORH hat auch nicht die Tatsache geholfen, dass nach Jelenićs Rücktritt als Leiterin dieser Institution, deren Hauptaufgabe in der Strafverfolgung besteht, Zlata Hrvoj Šipek ernannt wurde, die keine Erfahrung im Strafrecht hat. Sie kommt aus der zivilrechtlichen Abteilung der DORH und hat sich während ihrer gesamten Berufslaufbahn nur mit zivilrechtlichen Fällen beschäftigt. Anders als bei Gerichten, bei denen Gerichtspräsident*innen nicht die Arbeit anderer Richter*innen beeinflussen können, ist DORH eine hierarchisch organisierte Institution, weshalb der Generalstaatsanwalt eine Schlüsselrolle innehat, weil er die Ausrichtung der Arbeit der Staatsanwaltschaft bestimmt und befugt ist, den ihm untergeordneten Staatsanwält*innen Weisungen zur Arbeit in einzelnen Straffällen zu erteilen. Da sie keine Erfahrungen im Strafrecht hat, stützt sich Hrvoj Šipek in ihrer Leitung der DORH stark auf ihre Vertreter*innen aus der strafrechtlichen Abteilung. Eine besondere Rolle kommt bei der Vorbereitung der Ermittlungen dem ehemaligen Generalstaatsanwalt Mladen Bajić zu, den sie auf Grundlage eines Honorarvertrags als Berater in der DORH auch weiterhin beschäftigt, weil er kraft Gesetzes mit 70 Jahren in Rente gehen musste.
Mit der Verhaftung der ehemaligen Ministerin Gabrijela Žalac wurde zum ersten Mal eine Person wegen Korruption angeklagt, die unter Premierminister Plenković auf ihren Führungsposten ernannt wurde
Die Generalstaatsanwältin Zlata Hrvoj Šipek und die Leiterin des USKOK Vanja Marušić versuchten auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am 17. November 2021 wenig überzeugend zu erklären, warum der Fall Žalac nicht weiterverfolgt wurde und warum die Anklageschrift im Fall Agrokor zurückgezogen wurde. Ihr gemeinsamer Auftritt, bei dem auch deutlich wurde, dass sie untereinander ein äußerst frostiges Verhältnis haben, verschlechterte zusätzlich den Eindruck der Öffentlichkeit über den Zustand der DORH.
Die politischen Reaktionen auf den Fall Žalac und die Rücknahme der Anklageschrift im Fall Agrokor waren heftig ‒ die parlamentarische Opposition forderte die Amtsniederlegung von Hrvoj Šipek und unterstrich, dass der Fall Žalac die politische Parteilichkeit der DORH beweist. Staatspräsident Milanović wetterte in seinem Stil gegen die „Blamage“ der DORH. In dieser Atmosphäre entschieden sich Premierminister Plenković und die Regierungsmehrheit für eine stille Unterstützung der DORH: Sie haben die Arbeit der DORH weder verteidigt noch gelobt, jedoch haben sie den Jahresbericht der Generalstaatsanwältin für 2020 im Parlament angenommen.
Im Februar 2022 wurde die Regierung erschüttert, als der damals aktuelle Minister für Bauwesen und Staatsvermögen Darko Horvat aufgrund des Verdachts auf Amtsmissbrauch verhaftet wurde
Die Regierung von Andrej Plenković wurde durch das beispiellose Vorgehen der DORH im Februar 2022 erschüttert, als wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch bei der Verteilung der Subventionen ein aktuelles Regierungsmitglied, der Minister für Bauwesen und Staatsvermögen Darko Horvat, verhaftet wurde. Weitere Ermittlungen wurden auch gegen den Vizepremierminister Boris Milošević und etwas später auch gegen den Minister für Arbeit und Rentenwesen, Josip Aladrović, eingeleitet. Zum ersten Mal kam es dazu, dass die Polizei vor laufenden Kameras einen aktuellen Minister verhaftete und Ermittlungen gegen drei aktuelle Minister aufnahm. Plenković behauptete, er habe von Horvats Verhaftung aus den Medien erfahren und hob hervor, dass dies ein Beweis der unabhängigen Arbeit der DORH sei. Gleichzeitig beteuerte er aber, dass der Zeitpunkt der Vehaftung und der Ermittlungen gegen die Minister just in eine Woche falle, in der die Regierung erfolgreich die Frist zur Verwendung von EU-Mitteln für den Wiederaufbau nach dem Erdbeben um ein Jahr verlängern konnte und Maßnahmen unternahm, um Preissteigerungen für Energie zu begrenzen. Dieser Teil seiner Aussage impliziert, dass DORH durch die Wahl des Zeitpunkts ihrer Handlungen der Regierung Stolpersteine in den Weg legt. Diese Äußerung wurde als eine indirekte Warnung an die DORH interpretiert. Die politischen Konsequenzen der Strafermittlungen gegen drei Minister konnten nicht vermieden werden: Die Opposition verlangte Neuwahlen, aber Premierminister Plenković gestaltete Ende April sein Kabinett um und entließ die unter Verdacht stehenden Minister, wobei die Regierungsmehrheit stabil blieb.
In der Öffentlichkeit wurden die Ermittlungen gegen drei aktive Minister unterschiedlich gedeutet: Einerseits als bisher stärkster Beweis, dass Korruption in der HDZ und in ihren Regierungen keinesfalls eine Sache der Vergangenheit ist. Andererseits als ein Beleg dafür, dass USKOK und DORH nach der Blamage in den Fällen Žalac und Agrokor krampfhaft versuchen, ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren und das erschütterte Vertrauen zurückzugewinnen – zumindest in einem Fall, der finanziell nicht schwer wiegt, aber wegen der Ermittlungen gegen aktive Minister politisch brisant ist. Was werden am Ende die Gerichte sagen? Auf die Antwort auf diese Fragen werden wir jahrelang warten müssen. Auf jeden Fall scheint es, dass die EPPO, die in der kurzen Zeit ihrer bisherigen Arbeit bereits in 8 Fällen Strafermittlungen in Kroatien unternommen hat, auch die Arbeit der DORH dynamisiert hat.
[1] Als 2016 Andrej Plenković zuerst zum Vorsitzenden der HDZ und dann zum Premierminister gewählt wurde, war er von Führungskadern umgeben, die unter seinen Vorgängern Ivo Sanader und Tomislav Karamarko auf ihre Positionen gekommen waren. Es dauerte mehrere Jahre, bis er die alten Kader, zum Teil nach offenen politischen Auseinandersetzungen mit ihnen, austauschen konnte und Personen nach seinen Präferenzen auf die führenden Posten in der Partei und in der Regierung gekommen sind.
[2] Im März 2017 wurde Ivica Todorić, der Gründer und Mehrheitseigentümer des größten kroatischen Konglomerats Agrokor, welches wegen Überschuldung am Rande des Bankrotts stand, durch ein Sondergesetz, populär „Lex Agrokor“ genannt, enteignet. Gegen Todorić wurde Anklage wegen mehreren Wirtschaftsstraftaten erhoben, das anhängige Gerichtsverfahren vor dem Zagreber Gericht steht noch immer am Anfang.
[3] In Kroatien herrscht in der Öffentlichkeit eine negative Einstellung gegenüber dem Freimaurertum, worauf vor allem die kroatische katholische Kirche einen Einfluss hat. Jelenićs Mitgliedschaft in der Freimaurerloge wurde als Beeinträchtigung seiner Unabhängigkeit als Generalstaatsanwalt interpretiert.
Ursachen der Krise der Justiz in Kroatien
von Alan Uzelac
Die Reformen der Justiz in Kroatien haben, ähnlich wie in anderen postsozialistischen Ländern, nicht zu einer grundlegenden Veränderung des Verständnisses des Rechts und der sozialen Funktion der rechtsprechenden Gewalt geführt. Deswegen haben auch nach den demokratischen Veränderungen Merkmale der Justiz überlebt, die sie im sozialistischen System der Einheit der Staatsgewalt hatte. Dies zeigt sich u. a. in der Auffassung, derzufolge Gerichte nur eine zusätzliche Transmission in der Durchführung der Entscheidungen sind, die in den Zentren der politischen Macht getroffen wurden; sowie darin, dass die richterliche Arbeit nicht mehr ist als die administrative Abfertigung von Rechtsfällen, und dass richterliche Entscheidungen auf wörtlicher Auslegung und hyperformalistischer Anwendung von Gesetzen beruhen sollen. Überlebt hat auch die Auffassung von der instrumentellen Natur des Rechts als eines Mittels zur Durchführung des Willens der herrschenden Eliten und zum Schutz nationaler Interessen.
In den 1990er Jahren war das Hauptkriterium für die Auswahl hoher richterlicher Kader ihre Loyalität gegenüber politischen Strukturen
In der Periode 1990-2000 wurden Interventionen in die Strukturen der Justiz und die Rekrutierungspolitik für das Justizpersonal nach Kriterien durchgeführt, die Unabhängigkeit und Individualität der Träger*innen richterlicher Funktionen nicht förderten. Ganz im Gegenteil: In den 1990er Jahren war das Hauptkriterium für die Auswahl hoher richterlicher Kader ihre Loyalität gegenüber politischen Strukturen und ihren Zielen. Progressive und demokratisch orientierte Richter*innen und Staatsanwält*innen, die Träger der Transformation der Rechtsprechung im Geiste einer wirklich unabhängigen und sozial verantwortlichen Justiz hätten sein können, wurden entlassen oder sind selbst gegangen. Die neuen, teilweise unerfahrenen Kader setzten die Arbeit in der Tradition der Einheit der Staatsgewalt fort. Gleichzeitig verschlechterte sich die rechtstechnische Qualität der Arbeit in der Justiz. In dieser Periode war die richterliche Gewalt in hohem Maße von der Politik abhängig.
In den 2000er Jahren wurde die Justiz auf Grundlage einer übertriebenen Auffassung der institutionellen Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt konsolidiert
In den 2000er Jahren haben sich die Trends verändert und das System wurde auf Grundlage einer übertriebenen Auffassung der institutionellen Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt konsolidiert. Der vorgefundene Zustand der rechtsprechenden Strukturen wurde konserviert und die Rechtsprechung isolierte sich vom Rest der Gesellschaft. Die Rechtfertigung dafür war das Verständnis des Systems der Gewaltenteilung als eines Systems absoluter Trennung der drei Gewalten, und nicht ihres gegenseitigen Ausgleichs und Kontrolle (checks and balances). Die Unabhängigkeit der Rechtsprechung wurde als ein Grund zur Abweisung jeglicher Kritik interpretiert, sowie als Rechtfertigung für die Übernahme auch jener Teile des Justizsystems, die nicht im engeren Sinne zur richterlichen Kompetenz gehören: Gerichtsverwaltung, fachliche Ausbildung der Richter*innen und Staatsanwält*innen, sogar die Ausarbeitung von Gesetzesvorschlägen, die die Justiz betreffen. Das gleiche Muster verfolgten auch andere Rechtsberufe, z. B. Anwälte und Notare, wodurch ein Klima geschaffen wurde, in dem die Justiz als eine Summe geschlossener und durch gemeinsame Interessen verbundener Klassen von Gleichgesinnten perzipiert wurde.
Ab dem Moment, als der kroatische EU-Beitritt gewiss war, wurden die zur Modernisierung der Justiz wesentlichen Reformen unterbrochen oder annulliert
Während der Verhandlungen über den Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union wurden die Reformprozesse maßgeblich durch den politischen Druck aus der EU dahingehend bestimmt, die Justiz in einen „ordentlichen“ Zustand zu bringen. Die externe Natur und politischer Charakter dieses Drucks führten dazu, dass die Justizreform als eine vorübergehende und von der Außenpolitik geprägte Aufgabe aufgefasst wurde. Die Vorgaben der EU wurden nur widerwillig implementiert und riefen in der Praxis negative Reaktionen hervor. Die Versuche derer Implementierung dauerten so lange, bis die politische Entscheidung über den EU-Beitritt Kroatiens getroffen wurde, obwohl die bis dahin durchgeführten Justizreformen nur teilweise erfolgreich waren. Ab dem Moment, als der kroatische EU-Beitritt gewiss war, wurden die zur Modernisierung der Justiz wesentlichen Reformen unterbrochen oder sogar vollständig annulliert. Beispiele hierfür sind die Demontage der (ohnehin schlecht begonnenen) Reform der Zwangsvollstreckung, die Aufgabe objektiver Kriterien bei der Auswahl der Richter*innen oder die Degradierung der Staatlichen Schule für Amtsträger in der Justiz und der Richterlichen Akademie auf das Niveau unverbindlicher Kurse und Abendschulen, an denen Gleichgesinnte ihre Meinungen austauschen. Die Umkehrung der Reformen wurde nicht nur durch den Widerstand der einheimischen Strukturen verursacht, deren Interessen durch Reformen bedroht waren, sondern auch durch viele Schwächen in der Implementierung der Reformen: Dazu gehören Eile und Improvisation im Prozess der Reformen, fehlende Kontinuität der europäischen Expertengruppen, die die Reformen begleiteten, sowie ausbleibende Transparenz, Dialog und Zusammenarbeit mit möglichen Träger*innen der Reformen in Kroatien.
In den letzten 10 Jahren wurde die Abhängigkeit der Rechtsprechung von der Politik verringert, obwohl die Folgen der 1990er Jahre noch spürbar sind. Ein Problem, welches zunehmend Relevanz erfährt, ist jedoch die Abkapselung der Rechtsprechung nicht nur von der Politik, sondern auch von der Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse, sowie die Schaffung von isolierten und selbstreferentiellen Strukturen. Die Exekutive scheint mit diesem Zustand zufrieden zu sein, weil sie die Verantwortung für die Lösung heikler Fragen - von Agrokor[1] bis zur Schuldenkrise - auf die Gerichte abwälzen konnte. Mangelndes Vetrauen der Öffentlichkeit in die Justiz kann für politische Eliten günstig sein, weil dies den Eindruck erwecken kann, dass deren schlechte Reputation durch die öffentliche Geringschätzung der Justiz noch in den Schatten gestellt wird.
Die kroatische Justiz vermeidet heute wegen professioneller und sozialer Abkapselung die Auseinandersetzung mit berechtigten kritischen Einwänden
In den letzten Jahren waren die Interventionen in die Justiz überwiegend durch innenpolitische und ökonomische Geschehnisse geprägt, vor allem durch die Folgen der globalen Wirtschaftskrise, die sich in Kroatien seit 2010 manifestieren und bis heute spürbar sind. Zu den Folgen gehört die Krise der Überschuldung der nationalen Wirtschaft, sowie die Krise der exzessiven Kreditschulden der Bürger*innen. Die ohnehin schwache Justiz war nicht in der Lage, auf diese Probleme adäquat zu reagieren. Die Antwort war die Verlegung einer großen Zahl von Fällen außerhalb der Gerichte, die sogenannte „Dejudifizierung“. Aber die notgedrungen konzipierten ad hoc Maßnahmen, durch welche man Disfunktionalitäten des Gerichtsverfahrens überbrücken wollte, haben neue Erschütterungen, eine Instabilität des Systems und eine Marginalisierung der Gerichte im gesamten Justizsystem verursacht. Ein Beispiel ist die Überbrückung der gerichtlichen Zwangsvollstreckung durch ein Verfahren der Schuldeneintreibung seitens der staatlichen Finanzanstalt FINA. Ein weiteres Beispiel ist die Überbrückung des Gerichtsverfahrens der Zertifizierung unangefochtener Forderungen durch Übertragung dieser Verfahren auf Notare und Anwälte, die nun an Stelle der Gerichte Forderungen beglaubigen, die durch Zwangsvollstreckung eingetrieben werden.
Obwohl diese Maßnahmen zur scheinbaren Verbesserung des Zustands der Justiz führten, weil Gerichte durch Übetragung der Rechtsfälle auf außergerichtliche Instanzen entlastet wurden, bleiben die Grenzen der Privatisierung von Justizfunktionen unklar. Diese Privatisierung verschiedener gerichtlicher Funktionen zeitigte zahlreiche negative Folgen: größere Kosten für den Staat, ungerechtfertigte Verteuerungen für die betroffenen Bürger*innen, künstliche Aufblähung der Zahl der Rechtsfälle, um die Profite der privaten Strukturen zu erhöhen, sowie soziale Unempfindlichkeit der interessierten Eliten, die weitere Reformen verhindern können. Außerdem hat die Politik aufgrund der Verlegung von Gerichtsfunktionen in die Hände privater Strukturen das Interesse an einer grundlegenden Reform der Justiz verringert.
Wirkliche Reformen der Justiz können nicht durch bloße Gesetzesänderungen erreicht werden
Die Strukturen der Justiz vermeiden heute wegen professioneller und sozialer Abkapselung die Auseinandersetzung mit berechtigten kritischen Einwänden. Das Verschließen gegenüber jeglicher Kritik führt zur Vermeidung des Dialogs mit der allgemeinen Öffentlichkeit und der Überprüfung der eigenen Arbeit im Dialog mit anderen Teilen der Rechtsprofession und mit der akademischen Gemeinschaft. Konferenzen und Beratungen von Rechtspraktiker*innen verwandeln sich in Treffen, bei denen eigene Vorurteile als die beste Praxis dargestellt werden, ohne kritische Überprüfung oder komparative Verifizierung. Aus diesen Gründen entsteht ein Klima, in dem auch gut konzipierte Reformen im Voraus abgelehnt werden, und Versuche der Implementierung der Reformen mit Obstruktion und passivem Widerstand beantwortet werden.
Die kroatische Justiz ist auf den Umgang mit aktuellen Herausforderungen nicht vorbereitet: Weder auf eine Internationalisierung bzw. Europäisierung, noch auf neue Technologien oder steigende Erwartungen der Öffentlichkeit. Die Richter*innen und anderen Amtsträger in der Justiz sprechen überwiegend keine Fremdsprachen, verfolgen kaum die kroatische Fachliteratur – und ausländische Literatur erst recht nicht, haben keine interdisziplinären Kenntnisse und Erfahrungen außerhalb ihres Berufes und sind IT-Analphabeten. In einem großen Teil der Rechtsprechung herrscht ein antiintellektuelles Klima vor und die demokratische politische Kultur der Richter*innen ist relativ schwach.
Seit Jahren spricht man in Kroatien davon, dass eine Justizreform im Gange ist. Darunter versteht man üblicherweise Gesetzesänderungen, die Gerichtsorganisation und -verfahren betreffen. Es gab bisher zu viele solche Änderungen. Auch gegenwärtig werden Änderungen einiger Systemgesetze vorbereitet. Das Problem besteht darin, dass es sich selten um gut vorbereitete, ambitionierte und systematische Änderungen handelt. Wirkliche Reformen können nicht durch bloße Gesetzesänderungen erreicht werden. Dafür sind umfassende Maßnahmen, konkrete Projekte, klare Verantwortung für den (Miss-)Erfolg und eine effiziente Verfolgung der Auswirkungen notwendig.
[1] Der Fall Agrokor wird im Text von Slavica Lukić näher erklärt.
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